Theodor Mommsen †

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Ein Nachruf von Prof. Erich Marcks, Heidelberg.

Ein Sechsundachtzigjähriger, ist Theodor Mommsen von seiner großen Lebensarbeit geschieden. Die Trauer um ihn ist ohne den Stachel, der sich an Treitschkes Bahre so schmerzlich in die Seelen bohrte: soviel auch er noch zu schaffen und zu sorgen hatte, ist Mommsen doch als ein Vollendeter von uns gegangen.

Dennoch verliert Deutschland mit ihm ein Unersetzliches. Er war eine geistige Weltmacht unter unsern Gelehrten, seit Jahren ohne jeglichen Vergleich der Erste, ein Ruhm seines Vaterlands und seines Standes, und bis an das Ende eine wirkende Kraft. Seine Arbeit gehört, das wissen wir mit Sicherheit, der Weltgeschichte der Wissenschaften an, er war einer der ganz großen Gelehrten, deren keine Zukunft vergißt; die Wissenschaft vom alten Rom, der er diente, verkörperte sich in ihm, er war ihr Führer, fast ihr Neuschöpfer. Von ihrem Boden aus werden seine Fachgenossen verzeichnen, was er getan hat und gewesen ist.

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Aber neben ihnen darf und muß, wenn von Th. Mommsen gesprochen wird, die Historie des neunzehnten Jahrhunderts ihre Stimme erheben; denn auch in das Gesamtbild dieser Zeiten, die seine Gegenwart waren, gehört mitten in der Fülle ihrer Gestalten seine Gestalt untilgbar hinein. Wer sein Leben einmal schreiben wird, wird auch von seiner zeitgeschichtlichen Stellung vieles zu künden und manches feine, seelische Problem näher, als wir es heute vermögen, zu erläutern haben: der Wert der Aufgabe, die Größe der Erscheinung ist bereits heute klar.

Sechsundachtzig Jahre! Die Wurzeln dieses Lebens ruhten in einer Epoche, die jetzt seit langem Vergangenheit ist.

In den Tagen der Restauration wuchs der Sohn des Gardinger Pfarrhauses in Schleswig und Holstein heran, in den Tagen beginnender politischer Bewegung erhielt er zu Kiel seine entscheidenden wissenschaftlichen, staatlichen, kulturellen Eindrücke, trat in die geistigen Kreise Berlins lernte die Welt des europäischen Südens und Westens kennen; in der deutschen Revolution focht der 30jährige Redakteur und Professor den politischen Kampf für die Freiheit seines eigenen, dann des weiteren Vaterlandes mit; die ersten Schläge der Reaktion stießen ihn gewaltsam aus seinem Leipziger Amt hinaus in die Ferne. Dann erst, seit 1852 etwa, lenkte sein Lebenswagen in die regelrechten stillen Bahnen der Gelehrtenlaufbahn ein; er wurde Professor in Zürich, Breslau, Berlin, beinah ein halbes Jahrhundert hat er der Hauptstadt angehört. Er hatte in inngen Jahren Gedichte veröffentlicht, er lebte und webte in den Schätzen unserer großen geistigen Bildung, er war als Knabe noch ein Zeitgenosse Goethes gewesen. Er hatte als Student und junger Gelehrter die Netze seiner Studien erstaunlich weit gespannt, auch die seiner Fachstudien; um das Römische Recht wahrhaft zu begreifen, wurde der junge Jurist Historiker und Philologe, Sprachwissenschaftler und Nationalökonom.

Theodor Mommsen
Theodor Mommsen

Von allen Seiten her ergriff er das Dasein des römischen Volkes, alles durchdrang er aus lebendiger Kenntnis, Land und Leute, Vorgeschichte, Sprache, Literatur, die Altertümer des privaten und öffentlichen Lebens; er lernte von jedem Vorgänger, er führte diese Arbeit selbstschöpferisch weiter, zusammenfassend, neuentdeckend; jedes Stück seiner Arbeit hätte einem andern zum Lebenswerk ausgereicht. Er hat Dialekte und Münzwesen, Chronologie und Schriftwesen früh angefaßt und früher oder später in eigenen Werken behandelt; wohin er den Fuß setzte, prägte er seine Spuren dem Erdboden tief und dauernd ein. Und dann trieb ihn mitten in der Frische seiner jugendlichen Manneskraft, in der Rastlosigkeit seines siegreich ausgreifenden Suchens und Forschens sein und unser guter Geist zu dem glänzendsten seiner Werke der römischen Geschichte.

In raschem Anlauf hat er sie, jetzt eben vor einem halben Jahrhundert (1854-56), von den Anfängen bis gegen das Ende der Republik geführt: es bleibt für unsere Literaturgeschichte der Gipfel seiner Lebensarbeit. All jene Allseitigkeit seiner Auffassung erfüllt das Werk; was es für die Vorgeschichte und für die älteste historische Zeit, für die Kritik der Ueberlieferung und das staatlich-juristische Begreifen des römischen Wesens, was es für die innere Belebung der äußerlich bekannten Zeiträume geleistet, was es wagend und ahnend, mannigfach irrend, manchmal gewaltsam, immer aber genial an Neuem erschlossen hat – dies unmittelbare Verdienst abzuschätzen, wage ich nicht, am wenigsten an diesem Ort; aussprechen darf man, daß auch dieses riesengroß gewesen ist. Auch die Stellung von Mommsens Geschichte innerhalb der Entwicklung unserer Historiographie, ihre Abhängigkeit, ihre Selbstständigkeit, ihre Zukunftswirkung, darf ich heute nicht näher untersuchen; auch da genüge das eine, daß wir noch heute kein Werk besitzen, das zugleich mit so umfassender Kraft und mit so leuchtender Genialität das gesamte Leben einer großen Volksgeschichte in all seinen entscheidenden Richtungen durch die Jahrhunderte hin begleitete, in so einheitlicher Auffassung und so originaler, so tiefdringender und so neuernder Kenntnis, mit einer solchen Wucht des gesamten Wurfes. Es ist der Jurist, der in Mommsens Auffassung schließlich das letzte Wort hat; trotzdem, wie imposant sind seine wirtschaftlichen Abschnitte! Wie hinreißend seine literarischen; noch heute sind diese, das bezeugen die Philologen uns, „unübertroffen“. Noch heute hat jeder Historiker an Mommsen immer von neuem zu lernen; und daß dieses Werk der ersten Hälfte seiner Laufbahn, ja seines Lebens angehörte, ist, wenn man auf die Beherrschung des Stoffes blickt, wie ein Wunder. Freilich, nur auf der Höhe der Mannesjahre konnte wohl selbst er eine solche Fülle von künstlerischer Kraft und politischer Leidenschaft ausströmen.

Und darauf darf ich hier ganz besonders hinweisen: die Römische Geschichte wird, wenn einmal ihr wissenschaftlicher Inhalt ganz veraltet sein sollte, als Denkmal einer Persönlichkeit und einer Zeit unsterblich bleiben, ihr Gegenwartswert ist wirklich das Eigenste und Größte an ihr. Sie ist ganz ein Werk der fünfziger Jahre; die Erregung der Revolution, der Druck der Reaktion, der Schmerz und die Lehren des gescheiterten Versuches, der Groll von den Ausschreitungen von links und rechts, die Sehnsucht nach der nationalen Befreiung und dem Befreier, der Aerger der dumpfen Gegenwart – das ganze Zeitbild spiegelt sich hier in scharfen Umrissen, in glänzenden Farben. In der Tat, der Künstler und Politiker reden in Mommsen nicht weniger laut als der Gelehrte. Sein politischer Standpunkt ist der eines mittleren, realistischen, nationalen Liberalismus: aber die Persönlichkeit selbst drängt von der mittleren Linie, die der Verstand ihr vorzeichnet, von dem Maß unwillkürlich hinaus in das Extrem.

Eine Persönlichkeit voll Blut und Leidenschaft: sie erklärt sich in unablässigen heißen Angriffen auf jeglichen Gegner, auf „Junker und Pfaffen“; sie übersetzt jede Vergangenheit in den Kampf der Gegenwart, sie stößt zu mit Tadel, Anklage, Hohn, sie veranschaulicht in greifbarer Plastik, schildert in glühenden Tönen, sie prägt sich aus in einem Stile voller Pracht, Schärfe und Willkür, unruhig, grimmig, sprühend von Geist und Leben, bissig und begeistert zugleich: ans jeder Seite blicken die starken Augen des Redenden heraus.

Mommsen hatte von der Niederlage der achtundvierziger Ideologen gelernt, er pries in seinem Buch den Mann der Macht. Und doch wirkt der ganze liberale Idealismus seiner Generationen in diesem Prediger des neuen Wirklichkeitsgeistes; wie steht in seinem Idealbild Caesars, einem der schönsten aller historischen Kunst, hinter dem Realismus die Schwärmerei, die begeisterte und sehnsüchtige Hoffnung auf den erträumten politischen Erlöser auch seiner Gegenwart, wie mischen sich in dem Historiker und Dichter die Züge dessen, was 1850 alt, und was neu war: das alte aber, der idealistisch-liberale Drang, blieb doch die eigentliche Grundkraft von Mommsens Weltansicht.

Die Römische Geschichte ist gewiß das bedeutendste literarische Erzeugnis des deutschen Geistes um die Jahrhundertwende, ganz gewiß das bedeutendste der fünfziger Jahre.

Sie berührte den Nerv der Zeit, sie hob ihren Verfasser unter die ersten Schriftsteller seines Volks, Bewunderung und Haß stritten sich um ihn. Mommsen hat sie, wie man weiß, nicht fortgesetzt. Ich will mich hier nicht in psychologisch tiefer bohrenden Vermutungen ergehen, weshalb er den vierten Band, die vielverlangte Kaisergeschichte, nicht geschrieben hat. Was zutage liegt, ist, daß er seine römische Arbeit von 1856 ab der eigentlich gelehrten Forschung zugewandt hat. Er übernahm die Leitung des Riesenwertes des Corpus Inseriptionum Latinarum, der Sammlung aller lateinischen Inschriften, aus deren Durcharbeitung sich hundertfältige neue Erkenntnis alles Lebens der römischen Welt ergab; er arbeitete selbsttätig mit und überwachte die Arbeit eines ganzen Stabes von Gehilfen. Er vertiefte und verbreiterte seine Forschungen über das römische Altertum unablässig; er hat eine wahrhaft unermeßliche Arbeit getan: der Katalog seiner Schriften und Aufsätze füllt längst einen Band. Er schrieb ein großes und grundlegendes Römisches Staatsrecht, das an gelehrter Bedeutung mit der Römischen Geschichte wetteifert. Er hat noch spät ein Römisches Strafrecht danebengestellt. Er hat das Leben der Provinzen des Weltreichs während der Kaiserzeit in einem fünften Band seiner Geschichte (1885) geschildert, einem weltweiten Zustandsgemälde voll von eigenster und breitester Kenntnisse, von Geist und Größe; gegenüber den drei ersten erschien dieser Band ihm selbst ein Werk der Entsagung, obwohl er ein Meisterwerk von besonderem Rang war; immerhin konnte er nicht in die Nation hineinwirken wie jene. Mommsen beteiligte sich an der Aufdeckung des römischen Grenzwalles des Limes, im westlichen Deutschland; er griff immer tiefer in die späte Kaiserzeit hinein und wurde einer der bedeutensten Mitarbeiter der Monumenta Germaniae.

Ueberall unvergeßliche Leistungen, überall Schaffensdrang; und je älter er wurde, um so höher seine Stellung. Sein Stern strahlte vor der Welt; er war jahrzehntelang der Leiter der Berliner Akademie ein Organisator internationaler gelehrter Tätigkeit. Er wurde ein Haupt der Gelehrtenrepublik aller Lande; er selbst blieb durchaus ein Mitglied seiner Nation.

Un gerade dem Deutschen in ihm, man weiß es, hat doch auch der tragische Zug nicht gefehlt. Der Erfolg trug ihn und blieb ihm treu wie wenigen; die Arbeitskraft blieb ihm treu und die Gesundheit; er lebte in einem kinderreichen Haus, dessen Mittelpunkt er war, in reichbewegtem Verkehr; und er wandelte noch bei Lebzeiten auf den Höhen zweifelloser Unsterblichkeit. Ein Wermutstropfen blieb ihm dennoch nicht erspart; gegenüber dem öffentlichen Leben seiner Nation eine tiefe und unerfüllte Sehnsucht. Es drängte ihn in die Politik hinein; trotzdem wird man zweifeln dürfen, ob der große politische Historiker im Innersten eine politische Natur gewesen ist. Er ist Abgeordneter geworden und den Entwicklungen des Parteilebens gefolgt, er wurde aus dem – Fortschrittler von 1861 zum Nationalliberalen und freute sich des neuen Reichs; der Holsteiner in ihm ist früh zum Preußen geworden und zu einem ganzen Preußen. Schon mit dem Ende der siebziger Jahre trat er in die Opposition: er warf sich der konservativen Wendung Bismarcks grimmig in den Weg. Er war doch eben der alte Liberale, und sein Widerspruch kam aus der tiefsten Wurzel seines Wesens, aus dem Idealismus seiner Jugendtage hervor. Wohl war in ihm die Schroffheit des Juristen, wohl haftet in seiner Natur der Drang zum Kampf, zur verurteilenden Kritik, zur Schärfe, die sein großes Buch erfüllt, und gar leicht sprühten bei ihm die Funken; leicht quoll etwas Heißes und Spitzes aus den immer arbeitenden Tiefen seiner Leidenschaft empor. Sein Aeußeres spiegelte ja dieses Wesen genau; die mächtigen, durchbohrenden Augen über der scharfen Nase inmitten des hundertfach faltigen, bartlosen Gesichts und seine tiefeingerissenen Züge, um die die langen, weißen Haare wallten; die Stirn mächtig, der ganze Kopf wunderbar gezeichnet, unvergeßlich lebensdoll; dazu die leicht vorgebeugte schlanke Gestalt, die leise spitze Stimme mit ihren holsteinischen Lauten, die sprühende Lebendigkeit und Angriffslust seiner Unterhaltung. Er war vielen gütig und war ein Freund seiner Freunde; aber ein bequemer Feind ist er sicherlich nicht gewesen. Gewiß, er brauchte den Kampf- aber der Widerspruch, den er im letzten Vierteljahrhundert seines Lebens den herrschenden Strömungen seiner Zeit entgegenwarf, kam wirklich von innen her und war sicherlich nicht arm an inneren Schmerzen. Er gehörte einer Generation an, die zurückgedrängt wurde, der Generation Gladstone, so könnte man sagen; den Cäsar, den ihm die Wirklichkeit darbrachte, den Größten seiner Tage, vermochte er nicht zu erkennen, mindestens nicht anzuerkennen. Sein Groll, der sich 1881 leidenschaftlich entlud, ist später milder geworden, und schließlich hat er die Größe Bismarcks gelegentlich noch, nicht ohne rückblickende Sehnsucht, gepriesen.

Aber seine Zeit war es nicht mehr, die ihn umgab, und er fragte sich, ob er durch die Verwirklichung seiner Jugendwünsche, durch den Aufbau und die Weiterwirkung des nationalen Staates, nicht zugleich bestraft worden sei. Das alles wird man erst besser begreifen, wenn einst sein Leben geschrieben wird, und an ihm wie an so manchem seiner Altersgenossen wird sich dem historischen Verständnis eben hier ein Stück der ewigen menschlichen Tragik enthüllen. Zunächst umstreitet die Gegenwart seine Aeußerungen wohl noch, zustimmend oder tadelnd; eins aber wird schon heute, über Liebe und Recht hinweg, allen unzweifelhaft sein; lebensvoll ist Theodor Mommsen geblieben bis zuletzt. Er mochte den Ankläger machen: zum lähmenden Pessimismus aber war er viel zu groß. Er mochte dem Gedanken der Freiheit und der Humanität, er mochte manchem Ideal der Vergangenheit sehnsüchtig huldigen – er blieb dabei doch ein Preuße im Sinn des Königs, den er wohl vor allen liebte, des alten Fritz:

Nicht nur die Erbschaft der Aufklärung, auch die starke Staatsgesinnung, die doch auch in ihm war, zog ihn zu jenem hin; und er blieb ein Deutscher, an allen Lebensfragen seiner Nation und seiner Gegenwart heiß und stark beteiligt. Immer von neuem stieg er auf den Kampfplatz hinab, mehr als einmal als der Sprecher seines Standes und seiner Bildung, immer aber, wie er auch sprach, ein Mann von starkem Herzen und heißem Vaterlandsgefühl, von großem Sinn und großem Stil. So schafft und so ringt nicht weiter, wer wirklich in der Tiefe seiner Seele an seinem Volk verzagt.

Er lebte und kämpfte fort; er arbeitete fort, unermüdet bis über die Grenzen des menschlichen Alters hinaus; er vermochte nicht daran zu denken, daß er ruhen könnte, solange Atem in ihm wäre. Wie Friedrich II. ist er im Dienst gestorben. Uns bleibt der Stolz, daß er – gerade in all der Schroffheit und Eigenkraft seines Wesens – und all seinem Können und all seinem Bewußtsein ein Deutscher war.

Einer der Großen unserer Nation ist uns in ihm gestorben und bleibt uns in ihm lebendig.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 45/1903.