Sonntag, l. Oktober. Der türkische Marineminister trat wegen mangelnder Subordination der Flotte zurück.
Montag, 2. Oktober. Die Beschießung von Tripolis durch die Italiener nahm ihren Anfang.
Dienstag, 8. Oktober. Nach Meldungen aus Italien hat sich die Stadt Tripolis den Italienern übergeben. – England beorderte indische Regimenter nach dem persischen Golf.
Freitag, 6. Oktober. Die Italiener besetzten die Stadt Tripolis militärisch und ernannten einen Gouverneur. – Die türkische Hafenstadt Hodeida im Roten Meer wurde von italienischen Kriegsschiffen beschossen, ein im Hafen liegendes Kanonenboot wurde vernichtet. Die Forts von Hodeida erwiderten das Feuer.
Sonnabend, 7. Oktober. Die italienische Regierung erklärte die Blockade über die gesamte Küste von Tripolis.
Dies sind Ausschnitte aus dem Wochenkalender von Reclams Universum Weltrundschau vom 2.-8. Oktober 1911.
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Tripolis. – Die Großmächte und die Kriegführenden.
Nun weht die italienische Flagge über Tripolis, und die erste Etappe des Unternehmens wäre somit abgeschlossen. Für Italien handelt es sich jetzt vorerst um eine völlige militärische Festsetzung in der Stadt Tripolis und anscheinend auch um eine solche in Bengasi und Derna. Ehe diese nicht geschehen, will Italien in Friedensunterhandlungen nicht eintreten. Um aber an den genannten Punkten sich machtvoll festsetzen zu können, ist die Anwesenheit eines italienischen Expeditionskorps auf tripolitanischem Boden notwendig. Ein solches aber kann nicht vor Ablauf einer weiteren Reihe von Tagen auf der Reede von Tripolis eintreffen. Das Expeditionskorps sammelt sich aus den verschiedenen Häfen Italiens und wird in größeren und kleineren Abteilungen eingeschifft. Wenn auch inzwischen die Vermittelungstätigkeit der Mächte nicht stillsteht, so wird sie dennoch nicht zur Wirksamkeit kommen können, ehe nicht die volle militärische Besetzung von Tripolis durch Italiens Streitkräfte geschehen sein wird. Aber nicht nur Italien, nein, auch die Türkei ist im Augenblick nicht recht verhandlungsfähig, weil ihre Regierung in Konstantinopel nicht konstituiert ist. Dort gibt es zur Stunde überhaupt gar keinen Leiter der auswärtigen Politik, denn der Posten eines Ministers des Äußeren ist noch nicht endgültig wieder besetzt. Es fehlt also einfach an der berufenen Instanz, der die Formulierung der türkischen Anerbietungen für den Friedensausgleich obläge. Die Großmächte haben vorerst die Türkei darüber beruhigt, daß neue Angriffe der Italiener auf die adriatische und jonische Küste nicht weiter zu befürchten sind, da Italien mit solchen Angriffen sich gegen seinen österreichisch-ungarischen Bundesgenossen vergehen würde.
Die Beschießung Prevesas war denn auch wirklich ein starkes Stück, das die Geduld Österreichs auf eine harte Probe gestellt hat. Dieser Übergriff bedeutet einen Unfug, der nur aus der Übermutslaune des berauschten Italiens zu deuten ist. Das Königreich ist in einen Taumel darüber geraten, daß sein kecker Räuberstreich zu gelingen scheint. Im Gegensatz zu dieser wenig sympathischen Haltung des Angreifers behält die Türkei ihr besonnenes Wesen bei und zeigt sich bemüht, alles zu vermeiden, was den italienischen Koller noch steigern könnte.
Dieses stumme Leiden der Osmanen verpflichtet die Mächte, um so rascher einzugreifen und die Italiener daran zu verhindern, dem schwachen Gegner weitere Schädigungen zuzufügen. Die Plötzlichkeit des italienischen Angriffs setzte die Türken außerstand, die Sache mit dem Landheere auszutragen.
Sonst hätte die Angelegenheit für Italien möglicherweise nicht so ganz harmlos verlaufen dürfen. Dabei zeigt es sich, daß Italien selbst den Krieg ohne eigentliches Bereitsein angefangen hat. Denn seine Landungstruppen sind noch gar nicht beisammen, sie müssen von entfernten Sammelplätzen erst noch nach Neapel und Syrakus geschafft und ihre Einschiffung nach Tripolis bewirkt werden. Die Plötzlichkeit des Überfalls auf die Türkei erinnert an das japanische Vorbild, das freilich im Punkte wirklicher Kampfbereitschaft nicht erreicht worden ist.
Dem rechtlich Denkenden bereitet es ein peinliches Gefühl, sehen zu müssen, daß der italienische Klerus die tripolitanische Untat kirchlich segnet und den Schutz der Madonna auf diese Expedition herabruft. Freilich tun die römischen Bischöfe derartiges unter dem Motto eines Waffenganges gegen die Ungläubigen, und das mag ja wohl der Realpolitik des Vatikans sachlich gewiß genau entsprechen. Aber dieser Vermengung sehr irdischer Dinge mit der Religion haftet für Feinfühlige ein recht peinlicher Beigeschmack an. Für Italien bleibt trotz alledem noch eine nicht leichte Arbeit übrig: die wirkliche Machtergreifung in Tripolitanien. Es hat nicht den Anschein, als ergäben sich die dort lebenden Mohammedaner ohne jeden Widerstand in ihr Schicksal. Inzwischen haben sich die Anzeichen dafür gemehrt, daß der Sturm der Empörung gegen Italien die ganze mohammedanische Welt ergriff. Imam Yahia, der die Türkei in Jemen bekriegte, stellte auf die Nachricht des italienischen Überfalls hin die Feindseligkeiten gegen die Pforte sofort ein und bot ihr für die Verteidigung von Tripolis 100 000 seiner Krieger an. Da aber auch England von Indien her, als „die größte mohammedanische Macht“ nachdrücklichst aufgefordert wurde, gegen Italien sich zu wenden, so gewinnt die Notwendigkeit eines raschen Friedensschlusses immer neuen Nachdruck. England hat ein ausgesprochenes Interesse daran, daß diese in so bedenklicher Nähe Ägyptens sich abspielenden Rassekämpfe, in denen das bedrohliche Glaubensmotiv auf beiden Seiten der Streitenden so stark betont wird, in raschestem Tempo und in einer Form beigelegt werden, die den Türken eine äußerliche Genugtuung gewährt.
Für Deutschland besteht jetzt die dringende Notwendigleit, in seinen Bemühungen um eine Friedensvermittlung sich nicht etwa, wie es den Anschein gewinnt, von England ins Hintertreffen drängen zu lassen. Das würde eine schwere und dauernde Schädigung der deutschen Interessen im Osmanenreiche nach sich ziehen. Schon zeigen sich dort die ersten Anzeichen schwerer Enttäuschung über das Versagen der deutschen Hilfe. Risse England jetzt durch erfolgreiche Friedensvermittlungen die Türken mit Dankbarkeitsverpflichtungen auf seine Seite, so wäre das gleichbedeutend mit der glatten Vernichtung aller deutschen Hoffnungen in der Türkei, mit der Vernichtung der dort von Deutschen in zwanzigjährigem Schaffen geleisteten Kulturarbeit zugunsten deutschen Einflusses und deutscher Handelsverbindungen.
Die Sache darf nicht so enden, daß Deutschland den Türken gegenüber als der versagende Freund und England als der Befreier aus Not und Bedrängnis dasteht.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Rubrik „Aus Politik und Völkerleben“ in Reclams Universum Weltrundschau vom 2.-8. Oktober 1911.