Die Staatsanwaltschaft gilt als die „Kavallerie der Justiz“, und die Herren Rechtsanwälte werden als die „Kaufleute der Göttin Themis“ bezeichnet.
Etwas Wahres ist in diesem scherzhaften Vergleich sicher enthalten, denn er bezeichnet die Stellung beider Berufe nach außen. Einen großen Vorzug der Rechtsanwaltschaft aber bringt er nicht zum Ausdruck, nämlich die innerliche und äußerliche Unabhängigkeit jener, die das Recht „im Detail verkaufen“.
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Einige ihrer Vertreter, die als Verteidiger in Aufsehen erregenden Strafsachen in ganz Deutschland bekannt geworden sind, wollen wir unsern Lesern heute vorführen.
Um mit der Reichshauptstadt zu beginnen, ist nach dem Alphabet der Erste der Rechtsanwalt Leonhard Friedmann (Portr.), ein Namensvetter des seinerzeit „berühmtesten“ Verteidigers Fritz Friedmann. Im Gegensatz zu letzterem, dessen Einfluß auf die Gerichte manchmal überwältigend war, gilt er mehr noch als eine Kapazität auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Strafrechts und findet daher seine Tätigkeit mehr vor den rechtsgelehrten Richtern der Strafkammer und de Revisionsinstanzen, vor denen er seinen juristischen Scharfsinn und seine feine Dialektik leuchten lassen kann. Als Autorität geradezu aber gilt er heute in allen knifflichen und ernstlich verwickelten Revisionssachen, selbst so weit, daß Kollegen es nicht verschmähen, sich bei ihm Rat zu holen.
Mit dem Anfangsbuchstaben S. folgt der Justizrat Dr. Sello (Portr.), dessen Name mit den Titeln großer Strafsachen bekannt geworden ist. Man muß sein Plaidoyer im großen Schwurgerichtssaal in Moabit gehört haben, um sich ein rechtes Bild seines Wesens zu machen.
Eine solche Wucht der Rhetorik, wie er sie entwickelt, ist jedenfalls etwas Seltenes: ein unerschütterlicher Glaube an seinen Mandanten, an die Richter, an seine Redegewalt, an sich selbst und an alles, was er glauben will, ist das breite Fundament, auf dem er sicher und geschickt aufbaut, bis das gewaltige Gebäude seiner Schwurgerichtsrede fertig vor dem Auge des Zuhörers steht. Seine suggestiven Erfolge bei den „menschlicheren“ Geschworenen sind oft so außerordentlich, daß man ihn wohl mit Recht als den größten der jetzt lebenden Verteidiger bezeichnet. Es darf für den Menschen Sello nicht unerwähnt bleiben, daß er bei seiner enormen Praxis doch noch Zeit gefunden hat, mehrere Gedichtsammlungen herauszugeben.
Ebenso bekannt in Moabit und ebenso volkstümlich ist der Justizrat Wronker (Portr.). Auch seine Erfolge sind zahlreich, mühelos fließen ihm die Worte aus dem Mund, und er besitzt eine glänzende Beredsamkeit, deren Wirkung sich weder Jurist noch Laie entziehen können, aber eine Eigenschaft, die ihn besonders auszeichnet, ist sein stetes Bemühen, auch als Verteidiger denen zu helfen, deren Aufgabe es ist, die objektive Wahrheit zu ergründen.
Erst danach läßt er alle Umstände zusammenwirken, die zugunsten des Verteidigten sprechen. Er vermeidet auch alles, was man als „Quärulieren“ vor Gericht zu bezeichnen pflegt, und genießt deshalb den favor judicis wie kaum ein anderer, und das kommt seinen Klienten zweifellos auch zugute.
In der zweitgrößten Residenz des Reichs, in München, hat der Justizrat Dr. Bernstein (Portr.) sein Domizil aufgeschlagen. Die Tage seiner Schwurgerichtsreden führten und führen noch heute die wissenschaftliche und literarische Welt von ganz Isarathen auf den forensischen Schauplatz, um neben der Freude an seiner schlagenden Beweisführung auch den ästhetischen Genuß einer geradezu klassischen Diktion zu haben, die alle Register der Sprache beherrscht und oft zu den ergötzlichsten, geistreichen Rededuellen führt, in denen er niemals unterliegt. Da er selbst – bekanntlich ist er mit einer unter dem Pseudonym Ernst Rosmer bekannten Schriftstellerin verheiratet – literarisch sehr bewandert ist, so kann es nicht überraschen, daß er der bevorzugte Anwalt in allen großen Preßprozessen geworden ist. Er hat selbst bedeutende Erfolge auf kritischem und schriftstellerischem Gebiet davongetragen, und diese seine dichterische Seite ist es, die bei allen Strafsachen ihm in der Erklärung und Entschuldigung menschlicher Schwächen zu Hilfe kommt und seinen warmen Worten nicht selten einen Beifallssturm bei offener Szene verschafft, ohne daß der Vorsitzende es wehrt.
In einer dritten Königsstadt, in Stuttgart, wohnen zwei berühmte Anwälte, die auch äußerlich einander so ähnlich sind, daß man füglich weder Friedrich noch Konrad als den „größeren“ bezeichnen kann. Es sind die Zwillingsbrüder Haußmann (Portr.), die in ihrer Heimat, zumal sie auch ihre Praxis gemeinsam ausüben, kurz als die „Hausleute“ bezeichnet werden.
Man erzählt, daß sie eine Festungshaft, zu der der eine von ihnen „verknackt“ war, abwechselnd abgesessen hätten, da eine Unterscheidung zwischen beiden derzeit noch unmöglich war. Neben ihren Erfolgen als Verteidiger in großen Strafprozessen haben sie besonders in Volksversammlungen die überzeugende Kraft ihrer Redegewalt bewiesen, so daß sie heute beide als Volksvertreter im württembergischen Landtag sitzen und Konrad Haußmann als temperamentvoller Reichstagsabgeordneter auch in Berlin bekannt ist.
In Leipzig oder wenigstens in einer schönen Villa des nahegelegenen Vorortes Gautzsch wohnt der Rechtsanwalt Dr. Felix Zehme (Portr.9). Er ist Sachse von Geburt, spricht also auch die melodischste Sprache Deutschlands und ist seiner Vaterstadt treu geblieben. Weit über Deutschland hinaus erklang jüngst sein Name, als ihn die frühere Kronprinzessin von Sachsen in ihrem Ehescheidungsprozeß zum Beistand erwählte, der er noch heute ist; aber sein Ruf war schon vorher fest begründet als tüchtiger Jurist und gewandter Verteidiger und in ganz Deutschland bekannt aus dem großen Strafprozeß der Leipziger Bank. Seine Frau, geb. Ammon, ist eine hervorragende Künstlerin, die noch heute in Wohltätigkeitsvorstellungen mitwirkt.
Als Verteidiger des „berühmtesten“ Verteidigers hat sich der Justizrat Dr. E. Mamroth in Breslau Portr. nebenst.) einen Namen gemacht, indem es ihm gelang, die Freisprechung des erwähnten Fritz Friedmann in jenen Sachen zu erzielen, derentwegen seine Auslieferung erfolgt war. Sein Ansehen war aber vorher schon groß durch zwei berühmte Gift und Mordprozesse, in denen er erfolgreich als Verteidiger fungierte. Bei ihm wird die Tüchtigkeit als Kriminalist durch eine ungewöhnliche Gewandtheit der Rede und ein vornehmes, weltmännisches Auftreten unterstützt, und auch er findet trotz seiner großen Praxis noch Zeit zu literarischer Betätigung auf strafrechtlichem Gebiet.
Als der berühmteste Verteidiger Thüringens ist der Rechtsanwalt Dr. Ernst Harmening (Portr.), ein geborener Bückeburger, bekannt geworden, der in der alten Universitätsstadt seinen ständigen Wohnsitz hat. Sein Ruhm und seine Erfolge führten ihn oft nach Leipzig, Berlin, Wien und anderen Städten vor die höchsten Gerichtshöfe. Auch politisch ist er als entschieden Liberaler sehr eifrig tätig gewesen, ein neuer Beweis für die „Freiheit“ der Advokatur.
Mitten im Land der westfälischen Würste und des Schinkens, dessen Zischlaut kein Einheimischer aussprechen kann, auf der roten Erde der ehemaligen heiligen Feme (oder Vehme ) hat ein anderer Rechtsanwalt das Feld seiner Tätigkeit gefunden, dessen Name aber weit über die Grenzen hinaus bekannt ist, der Justizrat J. Lenzmann in Lüdenscheid (Port.). Er spricht selbst den westfälischen Dialekt, aber das hindert nicht die Wirkung seiner gewaltigen Reden, im Gegenteil verstehen ihn die sonst so schwerfälligen Westfalen so gut, daß sie ihm oft auf der Straße brausende Ovationen bereitet haben, wenn er das Gerichtsgebäude in Hagen verließ. Eine Berühmtheit aber hat er erlangt durch seine genaue Kenntnis in allen Sachen des Eisenbahnwesens.
Er vertritt seine Klienten mit ihren Entschädigungsansprüchen aus Unglücksfällen gegen den Fiskus sehr erfolgreich, doch hindert das den Fiskus nicht, sich seiner in andern Fällen vertrauensvoll zu bedienen.
Noch viel weiter westwärts, im sonnigen, heiteren Rheinland, wohnt last not least der Justizrat Gammersbach in Köln. Auch er hat sich durch sein großes Ansehen bei Gericht und durch das unbedingte Vertrauen, das er beim Publikum genießt, eine ungewöhnlich große Praxis geschaffen, die ihn weit über das Rheinland hinaus als hervorragenden Juristen bekanntgemacht hat.
Dieser Artikel von Dr. jur. W. K. Saffeini erschien zuerst 1905 in Die Woche.