Automobil und Publikum

1905, von Rechtsanwalt Graf von Bredow. “Wieder ein Automobilunfall” – dieser Ueberschrift begegnet man so häufig in den Tageszeitungen – und dann folgt die Beschreibung, aus deren Fassung die Parteinahme gegen das Automobil in die Augen springt. Der Leser wird durch die Darstellung ebenfalls gegen den Autler eingenommen, der das Unglück natürlich lediglich durch das “rasende” Tempo, mit dem er gefahren ist, verschuldet hat, und so entwickelt sich die Animosität gegen das Kraftfahrzeug immer mehr.

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Auf diese Weise wird leider das große Publikum noch lange in seiner ablehnenden Stellung gegen das idealste Verkehrsmittel der Neuzeit erhalten werden. Und doch kann es bei der Entwicklung, die die Explosionsmaschine in der kurzen Zeit, seitdem sie dem Verkehr dienstbar gemacht ist, gefunden hat, keinem Zweifel unterliegen, daß in dem Automobil das Fahrzeug der Zukunft erfunden ist. Nicht nur als Sportwagen, sondern insbesondere als Mittel, um Tasten fortzubewegen, wird der Kraftwagen in kurzer Zeit alle durch tierische Kraft bewegten Transportmittel verdrängen. Rascher als der Dampf sich die Welt auf den Schienen erobert hat, wird das Automobil die Landstraßen beherrschen. Gibt es denn auch etwas Idealeres als eine bis ins kleinste Detail minutiös arbeitende Maschine, die losgelöst von dem den Menschen entgegenarbeitenden Tierwillen, ihre Arbeit verrichtet?

Nachdem auch die Heeresverwaltung das neue Verkehrsmittel in ihren Dienst gestellt und sich von dessen hervorragender Verwendbarkeit in der Kriegstechnik überzeugt hat, ist der allgemeine Aufschwung auch durch den Widerstand der großen Massen nicht mehr zu beseitigen. Die folgende Generation wird jene belächeln, die das Automobil heute noch mit Feuer und Schwert ausrotten möchten, und deren gibt es leider, wie gesagt, noch eine große Anzahl.

Ja, wie weit hierin menschliche Kurzsichtigkeit gehen kann, beweist mir ein Ausspruch eines Herrn, der mir vor kurzem in; allem Ernst sagte, er freue sich über jeden Automobilunfall, den er in der Zeitung lese; die Leute, die sich in solche Wagen setzten, müßten alle den Hals brechen. Und worin liegt nun diese schier unbezwingliche Abneigung? Vor allem in der Unkenntnis! Solche Leute nehmen nur die natürlich auch dem Automobil anhaftenden Mängel wahr, sie fühlen sich durch Benzin- und Oelgeruch unangenehm berührt, sie fühlen sich belästigt, beim Ueberschreiten des Fahrdammes nicht in liebgewordener Langsamkeit dahinschlendern zu können, und werden gereizt, wenn sie durch das Signal aufgeschreckt ihre Beine etwas schneller eins vor das andere setzen müssen. Schon das Fahrrad wurde in dieser Hinsicht übel vermerkt, und auch gegen dieses erhob sich zuerst eine allgemeine Opposition. Nachdem es aber Allgemeingut auch des kleinen Mannes geworden ist, hat sich ein allgemeiner Umschwung zu seinen Gunsten ungemein schnell vollzogen. So wird es mit dem Automobil auch werden, allerdings wird sich dieser hier naturgemäß langsamer vollziehen, da ein Automobil,eine teure Sache ist, die sich nicht jeder leisten kann.

Nicht zum mindesten sind aber die Autler selbst an der bestehenden Animosität schuld, und zwar die, die durch rücksichtsloses Fahren die Straßen unsicher machen. Gegen solche Leute kann nicht scharf genug vorgegangen werden. Aber das Schlimme bei der Sache ist, daß die Leute das Kind gleich mit dem Bade ausschütten und die Gesamtheit der Automobilfahrer für diese rücksichtslosen Menschen verantwortlich machen.

Aber nicht nur das Publikum wird durch einzelne eklatante Fälle, in denen Unfälle nur durch grobe Fahrlässigkeit der Führer veranlaßt sind, beeinflußt: auch auf die Richter sind sie nicht ohne Eindruck geblieben. Wie häufig bin ich nicht Aeußerungen vom Richtertisch dahingehend begegnet? “Das ist ja allgemein bekannt, wie die Herren Automobilisten fahren” und dergleichen.

Dieser unwillkürlich auf den Richter einwirkende Unwille über die Rücksichtslosigkeit der Autler findet dann in immer höher werdenden Strafen seinen Niederschlag. Hierunter haben aber auch die vielen Unschuldigen zu leiden, denn der Stand der heutigen Gesetzgebung ist so, daß der von einem polizeilichen Exekutivbeamten angezeigte Kraftfahrer in hundert Fällen fünfundneunzigmal verurteilt wird: wenn e nicht ganz besondere sachverständige Zeugen hat, die zufällig “seine Unschuld beweisen” können.

Leider laufen nämlich derartige Strafprozesse darauf hinaus, daß der Angeklagte seine Unschuld beweisen muß, während nach der Strafprozeßordnung dem Angeklagten die Schuld bewiesen werden muß, um ihn bestrafen zu können.

In einem Aufsatz, abgedruckt im Jahrbuch der Automobil- und Motorbootindustrie für 1904, habe ich an der Hand praktischer Beispiele zu erläutern gesucht, wie in vielen Fällen der Richter durch die äußeren Begleitumstände meist dahin kommt, den angezeigten Automobilisten zu verurteilen. Es ist kein Platz dazu, hier näher auf diesen Punkt einzugehen.

Aber immerhin sind die bei polizeilichen Uebertretungen erlassenen Strafen doch noch zu ertragen; bei weitem schlimmer sind die Folgen, wenn unglücklicherweise durch einen Automobilunfall Menschen an Leben und Gesundheit geschädigt werden. Nehmen wir den Fall an, ein vollbesetztes Automobil durchfährt ein Dorf in mäßiger, den polizeilichen Vorschriften entsprechender Geschwindigkeit; plötzlich läuft ein Kind im Spiel um eine Ecke und direkt in den Wagen hinein. Das Kind wird überfahren und schwer verletzt. Sofort sammelt sich ein Haufen schreiender und schimpfender Menschen, die natürlich, ohne den Vorfall gesehen zu haben, gegen die Autler Partei nehmen. Jetzt entsteht für den Führer die Frage, soll er anhalten und womöglich behilflich sein, einen Arzt zu holen, kurzum soll er sich des Verunglückten annehmen, oder soll er sein Heil in der Flucht suchen. Diese Frage ist verschiedentlich erörtert worden. Die ergangenen polizeilichen Verordnungen enthalten hierüber nichts. Eine positive Vorschrift, bei dem Verunglückten halten zu bleiben, besteht nicht. Der Davonfahrende macht sich daher der Uebertretung nicht schuldig, und es fragt sich nur, ob sonstwo sich eine Vorschrift findet, die ihm ein Ausharren am Ort der Tat vorschreibt. Diese Vorschrift existiert nicht, rein juristisch ist er daher berechtigt, sich der Feststellung durch die Flucht zu entziehen. Auch kann ihm – wieder rein juristisch gedacht diese Handlungsweise bei späterer Heranziehung zur Verantwortung nicht in strafschärfender Weise angerechnet werden. Strafgesetz und Strafprozeßordnung geben hierzu keine Berechtigung.

Aber anderseits kommt die moralische Seite in Betracht; es würde ein Zeichen übler Gesinnung sein, wenn der, der das Unheil – wenn auch vielleicht unschuldig – angerichtet hat, sein Opfer hilflos liegen lassen und sich der Verantwortung durch die Flucht entziehen wollte. Und jeder Richter wird unwillkürlich in seinem Urteil eine derartige Handlungsweise berücksichtigen und den Angeklagten härter bestrafen. Das ist menschlich, und der Richter ist auch nur ein Mensch. Sich ganz von seinen Gefühlen und Empfindungen loslösen kann niemand. Aber, wie nun, wenn das sich ansammelnde Publikum, wie dies schon häufig der Fall war, eine drohende Haltung einnimmt und die dem Führer anvertrauten Fahrgäste Gefahr laufen, geschlagen oder gar getötet zu werden? In diesem Falle ist es unzweifelhaft Pflicht des Führers, die Flucht zu ergreifen und die Insassen vor Verletzungen durch die gereizte Menge zu bewahren. Dann liegt gewissermaßen ein Notstand vor.

Der Führer wird in solchen Fällen aber gut tun, im nächsten Ort zur zu gehen, um den Vorfall zur Anzeige zu bringen, da er sonst die Sympathien gegen sich hat. Eine strafbare Tat aber liegt aber in der Nichtmeldung nicht und wird, wie oben gesagt. objektiv hierdurch eine Strafverschärfung nicht bedingt. Hingegen ist eingewendet worden; was geschieht wenn der Automobilist, bevor er eine Polizeistation erreicht, schon angehalten wird? Dann wird man ihm nicht glauben, daß er sich hat melden wollen. Nun so schlimm ist die Sache denn auch noch nicht. Einmal kann er ja beim Anruf seine Meldung vorbringen, und außerdem wird der Richter den unbeteiligten Zeugen wohl auch so viel glauben, daß er die Absicht des Führers sich melden zu au wollen, für erwiesen ansieht. Man wird also gut tun, sollte einem das Unglück passieren, einen Menschen zu überfahren, und für den Verunglückten zu sorgen, um aber, falls andere Personen, die Insassen oder das Automobil selbst zu beschädigen drohen, sofort weiterzufahren.

Der Umstand aber, daß in den Verordnungen diesbezügliche Vorschriften nicht enthalten sind, und daß bis heute fast jede Provinz eine andere Verordnung hat, läßt es dringend geboten erscheinen, ein allgemeines Automobilgesetz für das Deutsche Reich zu erlassen. Und zwar müssen hierbei nicht nur die örtlichen Verhältnisse der einzelnen Landesbezirke, sondern auch die im Auslande bestehenden Vorschriften in Rücksicht gezogen werden. Zum Beispiel erheischt die Zollfrage gebieterisch ein internationales Abkommen. In den meisten Ländern wird der Zollverkehr für Automobile, die die Grenzen mit eigener Kraft überschreiten, in der Weise gehandhabt, daß der Führer auf dem Zollamt eine Kaution hinterlegt, die ihm gegen Vorweisung der hierfür erhaltenen Quittung beim Verlassen des Zollgebietes wieder zurück gezahlt wird. Natürlich verursacht diese Manipulation, da der Zoll nach Gewicht bezahlt wird, sowohl für den Führer als auch für den Zollbeamten viele Mühe und Schwierigkeiten, die um so unangenehmer, namentlich von letzteren empfunden werden, wenn die Abfertigung zur Nachtzeit erfolgt. Es gibt nun einen sehr einfachen Weg, diese Schwierigkeit zu beheben, nämlich den, daß die verschiedenen Klubs untereinander und jeder wieder mit seiner Regierung ein Abkommen dahin treffen, daß jene Mitglieder der Klubs, die bei der Kasse eine gewisse Kaution hinterlegen, von der Zahlung des Zolls befreit werden. Der Klub stellt eine Bescheinigung über die erfolgte Deponierung aus, und gegen Vorweisung dieser überschreitet der Automobilist die Grenzen der dem Kartell angeschlossenen Länder ohne Aufenthalt. Soviel mir bekannt, sind derartige Abkommen mit einigen Ländern auch schon in die Wege geleitet; sollte dies in größerem Umfang noch nicht geschehen sein, so ist dieses Vorgehen nur dringend zu empfehlen. Einen Nachteil kann niemand treffen, wenn die Höhe der Kaution den an der Grenze zu hinterlegenden Zoll deckt. Diese Höhe für die einzelnen Länder ein für allemal festzulegen ist Sache internationaler Verhandlungen zwischen den Klubs und den Regierungen. Auch für Nichtklubmitglieder ließe sich leicht eine gleiche Abmachung treffen. Denn auch für diese könnte der Klub dann die Verantwortung übernehmen, wenn eine geeignete Summe deponiert wird.

Die für die Gefälligkeit des Klubs diesen Herrn gegenüber etwa zu berechnende Gebühr würde unzweifelhaft gern bezahlt werden. Die Klagen der Zollbeamten werden aber mit einem Schlag beseitigt sein; denn diese brauchten dann nicht mehr wegen sicherer Aufbewahrung der in der Nacht hinterlegten Gelder Sorge zu tragen.

In ähnlicher Weise ließen sich auch die Unbequemlichkeiten, die in der Schweiz zu vielen Klagen geführt haben, beseitigen. Dort pflegt man Kraftwagenführer, die zu schnell gefahren sind, anzuhalten und nicht wieder freizulassen, bis sie eine Strafe von 20 Frank und mehr bezahlt haben.

Kann man den Delinquenten nicht gleich festhalten, so wird er von der mittels Telephon benachrichtigten Polizei im nächsten Ort dadurch dingfest gemacht, daß man die Straße mit einer Stange sperrt. Der Automobilist muß nun, falls er seine Fahrt fortsetzen will, zahlen, gleichgültig, ob er sich schuldig fühlt oder nicht; andernfalls wird er festgesetzt. Es ist nun nicht jedermanns Sache, sich ohne weiteres dem Urteil eines Polizisten hinsichtlich der innegehaltenen Geschwindigkeit zu fügen. Da man aber zahlen muß, würde man sein Geld erst durch einen langwierigen Prozeß zurückerhalten. Einen solchen zu führen, ist aber erst recht nicht jedermanns Geschmack. Wenn nun für solche Falle ebenfalls ein Depot beim heimischen Klub vorhanden ist, kann die Polizei gegen Vorweisung des diesbezüglichen Ausweises den Delinquenten ruhig weiter fahren lassen, der heimische Klub haftet mit dem Depot für den Fall, daß eine gerichtliche Verurteilung erfolgt, denn eine solche muß unbedingt als Voraussetzung für die Zahlungspflicht gefordert werden.

Ein derartiger Ausweis des heimischen Klubs würde auch eine durchaus zuverlässige internationale Legitimation sein.

Zum Schluß möchte ich sowohl an die Autler wie an das Publikum eine Mahnung richten, nämlich aufeinander Rücksicht zu nehmen. Der Autler soll so fahren, daß er weder sich noch andere gefährdet, das Publikum sich aber nachgerade daran gewöhnen, auf der Straße die Augen aufzumachen und nicht gleich nach dem Schutzmann zu schreien. Im Zeitalter des Benzins, Spiritus und der Elektrizität heißt es, sich selbst vor Schaden zu bewahren. Die Staatsgewalt ist nicht dazu da, die Unaufmerksamen vor Schaden zu bewahren. Wer sich heutzutage nicht auf eigene Füße stellt, dem kann nicht geholfen werden. Wo würden wir hinkommen, wenn dem Geschrei der Nörgler stattgegeben und Maßnahmen getroffen würden, die die glänzende Entwicklung des Kraftwagens hemmen sollen. Unberechenbare Verluste würden damit dem Handel und der Industrie bereitet werden; denn wenn wir im Konkurrenzkampf mit dem Auslande bestehen wollen, muß der Entwicklung auf diesen Gebieten freier Spielraum gewährt werden. Eine Statistik, wie viele Millionen jährlich das Automobil dem Volksvermögen zuführt, ist mir leider nicht zur Hand, aber so viel ist sicher, es handelt sich um Millionen. Und auch der Arbeiter, der sich allerdings kein Automobil kaufen kann, denn so billig werden sie wohl nie werden, findet seinen großen Verdienst in den vielen Industriezweigen, die erst durch die Automobilindustrie geschaffen oder unendlich vergrößert sind.

Dieser Text erschien zuerst 1905 in Die Woche. Das Bild zeigt den Präsidenten des deutschen Automobilclubs, es stammt aus Die Woche 1904 und war nicht Teil des Originalartikels.