Björnson zu Hause als Talkönig

1905, von Ernst Friderici. Jahrzehntelang hatte Norwegen drei Könige. Den wirklichen Beherrscher, dann die Dichterfürsten Henrik Ibsen und Björnstjerne Björnson. Durch die Nordpolfahrt des Professors Fridtjof Nansen kam ein vierter hinzu. Aber diese Ziffer war zu hoch für das kleine Land; deshalb entfernte man den politischen König, wozu der jüngste und letztgenannte dieses vierfachen Kleeblatts unter der Hand eifrig mitgewirkt hat. Jetzt sind es also wieder nur drei.

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Die Vielherrschaft liegt den Norwegern im Blut.

Bjönsons Großbauernhof Aulestad im Gudbrandstal

Nach dem Großthingbeschluß vom 7. Juni wurde vielfach die Parole laut, bekomme man keinen König aus Stockholm, Kopenhagen oder Athen, dann wolle man eine Republik nach schweizerischer Art. Die Eidgenossenschaft ist aber ein Bundesstaat. Das nördlichste Land des Weltteils scheint mit seinen vielen Tälern recht eigentlich auf eine Bundesverfassung angelegt; die Bevölkerung ist vielfach verschieden, und sogar die Volkssprache variiert beträchtlich, was freilich die Norweger nicht gern zugeben.

Der Dichter vor dem Morgenspaziergang

Bekanntlich hat man Serbien eine Art von Balkanschweiz genannt; die Parteien gliedern sich dort vielfach nach dem einzelnen durch Gebirge und Wasser geschaffenen Landesteil; in noch höherem Maß trifft dieser Vergleich für Norwegen zu. Der Bauer zwar möchte einen einheitlichen Herrscher haben, und zwar einen mächtigen, weil er seit Jahrhunderten die Beamtenwillkür stark empfunden hat, aber die Gebildeten und die geistigen Führer denken darüber anders. Formell ist Norwegen schon im Jahr 872 ein Einheitsstaat geworden, aber tatsächlich herrschte dort fast beständig Erbfolge- und Bürgerkrieg mit Parteinahme der verschiedenen Landesteile für die einzelnen Prätendenten, bis das Land 1380 unter dem Titel der Personalunion dänische Provinz wurde. Dies Teil- und Talkönigtum steckt den norwegischen Herrenmenschen im Blut, und der Dichter Arne Garborg hat den Reichseiniger Harald Schönhaar für ein großes Nationalunglück erklärt.

Ein echter und gerechter norwegischer Teil und Talkönig ist auch der jetzt 72jährige Björnstjerne Björnson.

Im Studierzimmer

So sehr, daß er auch das zeitweilige Los der geschichtlichen Könige und Prätendenten in Norwegen geteilt hat, nämlich die halb freiwillige Verbannung aus der Heimat; in den Jahren ihres kräftigsten Schaffens gingen einander wie in schweigender Uebereinkunft Ibsen und Björnson aus dem Wege, und nur einer von ihnen beherrschte abwechselnd die norwegische Geisteswelt.

Björnson ist auch darin ein durchaus heimatlicher Typus, daß er sich einer rein nationalen Herkunft rühmen kann; der große Romanschriftsteller Jonas Lie trägt lappländische Blutmischung in den Adern und Ibsens erster bekannter Vorfahr war ein aus Dänemark eingewanderter Fischer, seit welcher Zeit aber sämtliche Frauen in der Familie ausländisch waren, deutschen oder schottischen Ursprungs. Björnson blickt auf eine lange Reihe geistlicher und großbäuerlicher Vorfahren zurück und kann Charakterzüge beider Stände für sich in Anspruch nehmen; er ist aus einen Pfarrhaus hervor gegangen, hat ursprünglich Theologie studiert und lebt jetzt sommers als Großbauer auf seinem schönen Hof Aulestad in Gudbrandstal, während er den Winter in Rom zuzubringen pflegt. Wer will, kann auch das letztere als einen alt· norwegischen Zug registrieren, denn vor der Reformation waren die skandinavischen Völker besonders kircheneifrig und pilgerten viel nach Rom oder in das Heilige Land, wie denn der Held in einer der schönsten Episoden von Tassos “befreitem Jerusalem” ein skandinavischer Prinz ist; wie ein Papst nach dem Norden schrieb, die dortigen Völler müßten besonders eifrig nach Rom trachten, da sie dem Erdrand am nächsten wohnten und vom Weltuntergang am ersten bedroht seien.

Umgebung von Aulestad

Die Björnsonsche Vereinigung von Theologie, Dichtung und Häuptlingschaft ist in dem ebenso heroischen wie zerrissenen norwegischen Mittelalter mehrfach vorgekommen. Diese Männer waren zugleich gefeierte Sänger, tüchtige Großbauern und Handelsherren, übten religiöse Funktionen und waren gewaltige Parteipolitiker und Redner, genau wie ihr heute lebender Enkel. Auch das Leidenschaftliche und Springende im Temperament und die wechselnden Gesichtspunkte waren diesen Vorbildern eigen; es ist überhaupt ganz irrtümlich, sich die Skandinaven als eine durchweg entschlossene und stählerne Rasse vorzustellen; im geraden Gegenteil sind sie vielfach Quecksilber. So besonders auch ihre echteste dichterische und menschliche Verkörperung Björnson, der als Politiker heute den russischen Schutz gegen Schweden anruft und morgen von einem Großskandinavien träumt, dem ein ganzgermanischer Bund mit Deutschland, den Niederlanden, Belgien, England und Nordamerika folgen soll.

Er ist jedesmal in seiner Ueberzeugung und ihrer Darstellung durchaus ehrlich, aber am nächsten Tag meint er wieder etwas anderes.

Auch sozial lebt Björnson daheim durchaus wie einer jener alten norwegischen Teil- und Talkönige, die doch eigentlich auch nur Großbauern mit etwas Seeraub waren; die Fjorde ziehen sich dort ja tief in das Land hinein. Der große Dichter herrscht in seiner Gegend unbedingt, nicht nur durch fürstliche Gastlichkeit und eine stets offene Hand, sondern auch durch sein eifriges Eintreten für alle Interessen der Nachbarschaft und für den ländlichen Betrieb. Bis vor wenigen Jahren bewirtschaftete er sein Gut selbst, griff persönlich mit ein und glänzte besonders beim Heumachen; jetzt hat er die Gutsgeschäfte seinem jüngsten Sohn übertragen. Er ist sehr jähzornig und dann von schrankenloser Beredsamkeit, aber leicht wieder zu begütigen; übrigens kennt er seinen Fehler und hat sich in dem Lustspiel “Geographie und Liebe” selbst ironisiert. Vor einigen Jahren wurde das Stück zu Ehren seiner Rückkehr aus dem Süden in Christiania aufgeführt, und sein Sohn Björn Björnson spielte die Hauptrolle; der Dichter saß in der Loge und applaudierte lebhaft.

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.