Eine deutsche Kolonie in Venezuela

Von P. Schneider, Pfarrer der deutschen Gemeinde in Caracas. Im Zeitalter der Jubiläen ist es vielleicht nicht unangebracht, unsere Landsleute in der Heimat auf ein Jubiläum jenseits des Ozeans aufmerksam zu machen, das in den nächsten Monaten, freilich ganz in der Stille, gefeiert werden wird.

Der Jubilar ist die deutsche Kolonie „Tovar“ in Venezuela, jene in Deutschland halb vergessene, aber im innersten Kern deutsch gebliebene Ackerbaukolonie, die im Anfang des Jahres 1843 von badischen Einwanderern gegründet, nun auf ein sechzigjähriges Bestehen zurückblicken kann. Ihre Geschichte ist nicht reich an Thaten, und ihre Entwicklung ist hinter den ursprünglich gehegten Erwartungen zurückgeblieben. Still im bescheidenen Wirkungskreise, in völliger Abgeschiedenheit hat sie dahingelebt. Was uns aber mit Bewunderung erfüllen muß, und weshalb sie verdient, daß man ihrer in der Heimat nicht ganz vergißt, ist der Umstand, daß sie ihr Deutschtum, deutsche Sitten und Gebräuche, deutsche Sprache mit echt allemannischer Fähigkeit bis auf den heutigen Tag, das heißt, bis in die dritte Generation treu und rein erhalten hat.

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Im Jahr 1840 faßte die venezolanische Regierung den Beschluß, in dem wenig bevölkerten Land – noch heut hat Venezuela, doppelt so groß wie Deutschland, nur 2½ Millionen Einwohner – Auswandrerkolonien zu gründen, und wandte sich an den Geographen Augustin Codazzi, der sich damals in Paris aufhielt, mit der Bitte um ein Gutachten über die beste Durchführung ihres Planes. Codazzi war mit dem Plan durchaus einverstanden und beschloß, um dem Unternehmen den Erfolg zu sichern, die Ausführung selbst in die Hand zu nehmen. In einem Deutschen, dem Kupferstecher Alexander Benitz, der damals in Paris eine Karte von Venezuela stach, fand er dabei die beste Unterstützung. Denn dieser war es, der der zu gründenden Kolonie das Wichtigste, nämlich die Ansiedler, besorgte, indem er seine Landsleute aus dem badischen Schwarzwald veranlaßte, auf den Auswanderungsplan einzugehen. Mißernten hatten die Bewohner dieses Landstriches mehrere Jahre hindurch schwer heimgesucht, und Armut und Elend herrschten in ihren Häusern. Da mußte ihnen der Vorschlag ihres Landsmannes wie eine Erlösung aus großer Not erscheinen, und gern gingen sie darauf ein. Aber andrerseits wollten sie auch nicht voreilig den entscheidenden Schritt thun. sie verlangten erst genaue Nachrichten über Land und Klima, die Lage und Beschaffenheit des Bodens, auf dem man die neuen Ansiedlungen zu gründen gedachte, ebenso auch über die politischen Verhältnisse und den Grad der Freiheit, deren sich die neuen Kolonisten erfreuen sollten. Benitz ging auf diese Forderungen ein und begleitete Codazzi auf dessen Reise nach Venezuela.

Mädchenklasse mit ihrem Lehrer in Tovar

Hier handelte es sich zunächst darum, den geeigneten Platz für die neue Kolonie zu suchen, und nach mehreren Entdeckungsreisen glaubte Codazzi den vorteilhaftesten in einem Hochthal der Küstenkordilliere zwischen La Victoria und dem kleinen Hafen Maya gefunden zu haben. Der Boden war fruchtbar und versprach reichen Ertrag. Die Durchschnittshöhe von 1800 Meter über dem Meeresspiegel, eine Mitteltemperatur von 16 Grad Celsius, ließen die Annahme berechtigt erscheinen, daß hier Europäer, unbeschadet ihrer Gesundheit, nach heimischer Weise leben und den Ackerbau ihres Landes treiben könnten. Dazu kam noch, daß der Besitzer dieser bis dahin völlig unbekannten Gebirgsgegenden, für den sie selbst fast wertlos waren, Dr. Martin Tovar, die Ländereien leihweise hergeben wollte.

Später wurden sie von seinem Sohn den Kolonisten geschenkt.

Am 8. April 1843 trafen 374 Personen, 145 Männer, 96 Frauen und 133 Kinder in der neuen Kolonie ein. Zunächst wurden Häuser gebaut und Wege angelegt, vor allem der geradezu mustergiltige Weg durch den Urwald nach La Victoria. Große Abholzungen wurden vorgenommen und das dadurch gewonnene Land an die Kolonisten verteilt.

Man baute eine kleine Kirche, die vom Erzbischof persönlich eingeweiht wurde, man richtete eine Schule ein, deren erster Leiter, ein Herr Teufel, mit hingebender Treue und unermüdlicher Sorgfalt seines Amtes gewaltet hat – kurz, als im April des Jahres 1844 eine Regierungskommission die Kolonie Tovar besuchte, war sie mit Recht erstaunt, in einer rauhen, unbekannten Gebirgsgegend, inmitten eines Urwaldes, der bis vor kurzem noch von keinem Menschen durchquert war, weitab von jeder bewohnten Stätte ein blühendes Gemeinwesen zu finden. Aber diesem Aufschwung folgte nach wenigen Jahren ein schneller Niedergang. Eine Spaltung teilte die Gemeinde in zwei Parteien und verhinderte jede gemeinsame Arbeit; mehrere Mißernten untergruben den Wohlstand, und was noch übriggeblieben war, verzehrten die Revolutionen des Landes, deren Kriegsscharen mehrmals raubend und plündernd in unser abgelegenes Gebirgsdorf drangen. Die Kolonie hat sich von diesen Schlägen noch nicht wieder ganz erholt.

Kirche in Tovar mit umliegenden Bauernhäusern

Von den vor 60 Jahren eingewanderten leben nur noch 4 Männer und 11 Frauen. Im ganzen zählt Tovar gegenwärtig 62 Häuser, die über eine Bodenfläche von 4000 Hektar zerstreut sind, und 450 Einwohner. Die Schule wird von 65 Kindern besucht, 43 Knaben und 20 Mädchen. Den Anbau europäischer Feldfrüchte, den man in den ersten Jahren betrieb, hat man nach bitteren Erfahrungen wieder aufgeben müssen.

Dafür sieht man aber jetzt in den Thälern überall Kaffeepflanzungen und auf den Höhen Mais und verschiedene hiesige Feldfrüchte. Ganz seltsam und vielleicht einzig dahinstehend ist die Autonomie der Kolonie. Die venezolanische Regierung hat nicht das Recht, sich in die inneren, Angelegenheiten der Gemeinde einzumischen. Die Kolonisten wählen aus ihrer Mitte den Vorsteher, der nur der Bestätigung der Regierung bedarf. Sonst sind sie, obwohl schon längst venezolanische Bürger, in jeder Beziehung selbständig, was auch daraus hervorgeht, daß sie nicht zum Militärdienst heran gezogen werden dürfen. Von Anfang an war es den Ansiedlern streng verboten, eine Nichtdeutsche zu heiraten. Wer sich dieser Bestimmung nicht fügen wollte, mußte aus der Gemeinde ausscheiden und verlor alle Rechte an Grund und Boden.

Dieses Verbot ist bis jetzt ganz streng durchgeführt worden und hat wohl am meisten zur Erhaltung des Deutschtums beigetragen. Aber auf die Dauer wird man es kaum aufrecht erhalten können, wenn nicht Ersatz aus Deutschland kommt.

Dieser Artikel erschien zuerst am 27.09.1902 in Die Woche.