Exzellenz A. von Menzels Atelier

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Nein, wirklich, architektonische Reize hat das ältliche Haus Sigismundstraße 5 ganz und gar nicht. Auch wenn man die Haustür geöffnet hat, findet man nicht, wie der Dichter sagt: „das Schönste auf den Fluren“. Man passiert den unsagbar langweiligen und nüchternen Hof, die Pferdestalltür, einige Kater, und beginnt schließlich an der letzten Tür rechts den Aufstieg zu seiner Exzellenz.

Diese Hintertreppe ist ebenfalls schrecklich reizlos, doch auch wenn oben jemand anderes wohnte, wäre ein Roman auf ihr ganz undenkbar. Immer wähle ich, wenn ich den Meister und Freund besuchen will, eine so dunkle Dämmerstunde, daß ich meine, ihn nicht mehr zu stören, und klimme die vier Stiegen hinauf. Da stehen dann auf der Höhe gewöhnlich einige traurige Gestalten, alte Männer und Frauen, mit traurigen Blicken, in denen man liest; ach, wenn er uns doch für ein paar Stunden bestellte.

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Man kann öfter klingeln und warten, und warten und klingeln, bis man endlich Schritte hört; es wird geöffnet, und ich werde stets liebevoll eingelassen; ich passiere wie in einem Panorama einen langen, dunklen Gang, stolpere ein paar Stufen hinauf und siehe nun in der allerheiligsten Werkstatt des Meisters. Sie hat nichts von einem Panorama, von einem Makartatelier, keine Gobelins, Holzschnitzereien, Teppiche, Vorhänge und dergl. Der Meister, der in diesem Raum wohl nie eine Stunde sitzend zugebracht hat, da er im Stehen arbeitet, hat kein Interesse für Sitzgelegenheiten. Die wenigen altertümlichen Stühle sind hoch mit alten Papieren vollgepackt; überhaupt ist unglaublich viel Makulatur in diesem Raum, denn Menzel ist Ehrenbürger von Berlin und Breslau, und beide Städte bemühen sich, sein Atelier mit Wällen von unwissenswerten Sachen zu verschanzen. Inmitten dieser weißen Anlage erglänzt die Bronzebüste unseres Kaisers, ein Geschenk Sr. Majestät. Die Wände sind ganz nüchtern mit Ziegelrot angetüncht, und die einzige anmutige Abwechslung gewähren abgebröckelte weiße Stellen und Nägel, woran viele der Meisterwerke gehangen, von denen sich der Künstler nur schwer trennte; ein eiserner Ofen, der morgens bald ausgeht, spendet im Winter spärliche Wärme, aber Exzellenz verträgt mit bloßestem Kopf die größeste Kälte, ebenso wie er Essen und Trinken bei der Arbeit vergißt. Das Atelier hat ein großes und ein kleines Fenster; die Schattenwand neben dem großen ist mit allerlei Menschenklein in Gips angefüllt; mit Totenmasken, weiblichen Rücken, Tierschädeln und andern schmackhaften Sachen, die gar nicht schön aussehen; dennoch hat der Künstler eine prachtvolle Beleuchtungsstudie in vielen Nächten danach gemalt; wie er auch öfter früher zum Malexerzitium diverse Gipsmännerarme in Kunstwerke feinsten Tons umwandelte. Die Kunsthändler haben ihm die Wände bald ganz ausgeraubt; und er sagte selbst, als man ihn bat, sein Atelier photographieren zu dürfen: „Was will man denn hier photographieren? Es sieht doch bei mir aus, als wenn ich ausgepfändet wäre.“

Adolf von Menzel in seinem Atelier
Adolf von Menzel in seinem Atelier

Nur über dem altmodischen Schreibtisch, der auch zum Platzen voll von alten Papieren ist, hängen noch einige wundervolle Pferdestudien in Oel.

Die dritte Wand ziert ein alter Berliner Kachelofen, und daneben steht auf einer Kommode vor einem Rokokospiegel eine herrliche Porzellanfigur, Maria Theresia auf dem Thron.

Doch eine wahre Brandung von Papierstößen entfernt jede Vertraulichkeit mit dieser Majestät. Links führt eine kleine Tür ein paar Stufen hinab in das Allerheiligste, einen Raum, der noch viele ungesehene Mappen und Schätze birgt.

Das Reinigen dieser Räume darf nur in bescheidenster Weise in sehr großen Zeitzwischenräumen vom Portier vorgenommen werden. Manchmal regnet es vom Dach durch die Decke des Ateliers hindurch, und es stehen auf einem Tischchen immer einige interessante Geräte bereit, die bei der Katastrophe an die richtigen Stellen gesetzt werden, wobei, da sie von Metall sind, gewiß durch das Tröpfeln eine angenehme Musik entsteht.

Links am Fenster steht ein kugelbeiniger, alter Tisch, auf diesem ein großer, schräger, flacher Kasten, in dem das kleine Reißbrett mit dem Aquarell oder der Zeichnung ruht, die gerade bearbeitet wird, stets mit der linken Hand. Links davon ein alter Holztuschkasten mit Farbentäfelchen und einige Honigfarben sowie ein viereckiges Näpfchen mit Scherbenweiß (fleur de neige), das der Künstler besonders liebt, und eine sauber arrangierte Kollektion sehr alter Pinsel. Besonders abgebrauchte Borstenpinsel, mit denen so lange gearbeitet wird, bis das letzte Haar dahin ist.

Fast die ganze vierte Wand nimmt ein riesiges Gemälde ein, an dem der Künstler bis zum Jahr 65 gemalt hat, und das er trotz aller Wünsche von Kaisern, Künstlern und Verehrern seit vierzig Jahren leider unvollendet stehen lässt. Wenn ich darüber nachdenke, so kenne ich, von Panoramen abgesehen, eigentlich nur drei gute Kriegsbilder: das Mosaik der Alexanderschlacht im Museum zu Neapel, Los Lanzos von Velasquez in Madrid und die Schlacht bei Hochkirch von Menzel. Sicher würde des Meisters unvollendetes Bild „Friedrich der Große und seine Generale vor der Schlacht bei Leuthen“ das vierte bedeutende Kriegsbild geworden sein, denn es macht trotz der vielen unbemalten Stellen, die noch reine Leinewand sind, einen überwältigenden Eindruck.

Was Menzel den Appetit an dieser Schöpfung verdarb, ist unaufgeklärt; Meissonier bewunderte das Werk im Jahr 1867 aufs höchste und malte, nach Paris zurückgekehrt, seinen berühmten Rückzug Napoleons aus Rußland, der nach meiner Empfindung ganz von dem „Leuthen“ Menzels inspiriert ist. Der gleiche graue Himmel, der dunkle Zug der Armee am Horizont, die frierenden, bemäntelten Generale, das beschneite, zerstampfte und zerfahrene Terrain. Möglich, daß unser Menzel nicht der Nachempfinder Meissoniers scheinen wollte, und daß er deshalb diese herrliche Arbeit liegen ließ.

Zu den höchsten Genüssen rechne ich es, wenn mein greiser Freund mir eine kleine Mappe mit Zeichnungen zur Besichtigung gibt, die immer und immer wieder beweisen, daß noch nie, seit die Welt steht, so meisterlich mit Bleistift gezeichnet worden ist. Der gewöhnliche Zimmermannsbleistift wird in seiner Hand zur spitzen Feder, zum breiten Borstpinsel, zur Radiernadel und zum Wischer. Ich fühle mich immer künstlerisch erhoben, angespornt und gemaßregelt, wenn ich solche Mappe durchgesehen habe und verlasse dankerfüllt den lieben Meister, von dem ich stets etwas gelernt, wenn ich ein paar Minuten mit ihm zusammen war. Beim Abschied warnt er mich vor den Stolperstufen, und ich beginne den Rückzug. Der ganze Abstieg mutet mich interessant und, um mit ihm zu reden, „schmackhaft“ an. Die alten Modelle sehen viel malerischer aus, die gelbe Treppe wird durch eine Maid im blaugrünen, geschürzten Kostüm belebt, die jene scheuert und ganze Kaskaden von Wasser loslãßt, in denen sich ihre blitzblauen Strümpfe und ein silbergrauer Eimer spiegeln möchten. Vom Parterre her klingen liebliche Weisen einer Mozartschen Phantasie – dort wohnt eine treffliche Pianistin.

Auf dem Hof wird das Reitpferd geputzt, und zwei Mägde klopfen Teppiche. Ein herrliches Bild, das durch die Verbindung der Herbstnebel und Staub einen Menzelschen Reiz erhält. Und wie koloristisch sind jetzt die Kater, die in der Ecke am Müllhaufen zwischen weggeworfenen Buketts und roten Hummerresten an altgoldenen Bücklingsköpfen knabbern! Die Straße nach dem Tiergarten erscheint mir in ganz anderm Licht. Wie poetisch spiegeln sich die Häuser auf dem nassen Bürgersteig, das mit großen goldgelben Ahornblättern ornamentiert ist! Diese Landschaft erhält noch eine Busennadel dadurch, daß der Laternenanstecker soeben mit seiner Arbeit beginnt. Und nun erst der Tiergarten! Wie herrlich macht sich der dunkle, reitende Konstabler auf seinem zimmtfarbenen Gaul, auf dem goldlaubigen Hintergrund. Und so reiht sich Bild an Bild, das Menzel entweder schon gemalt hat oder noch malen wird. Das eine müssen wir ihm danken: er hat uns alle sehen gelehrt und kann mit dem seligen Faust sagen:

Steigt herab in meiner Augen
Welt- und erdgemäß Organ,
Könnt sie als die euren brauchen,
Schaut euch diese Gegend an!

Dieser Artikel von Professor Paul Meyerheim erschien zuerst in Die Woche 45/1903.