Berliner Strandleben

In manchen Teilen des deutschen Vaterlandes kann man immer noch der irrtümlichen Meinung begegnen, Berlin wie die Mark Brandenburg überhaupt liegen in einer Sandwüste, die sich von der Sahara nur durch den Mangel an Löwen unterscheide.

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Die guten Leute haben keine Ahnung, daß Berlin eine Seestadt ist. Ja, ganz im Ernst gesprochen, in keiner andern deutschen Großstadt des Binnenlandes macht sich dermaßen das Wasser durch seine Allgegenwart bemerkbar wie in und bei Berlin. Spree, Havel und Dahme, von der lieblich bescheidenen Panke ganz zu schweigen, verleugnen hier glücklicherweise alle langweilige Korrektheit und bilden, während sie sich in romantischen Zickzackläufen durch Wiese, Moor und Wald winden, eine Fülle von mehr oder minder großen Seen; daneben gibt es noch andere, von keinen Flüssen gespeiste Seen, die Ueberreste einstiger Stromläufe, und ein System von Kanälen, das Verbindungen und Abkürzungen herstellt.

Am Hundekehlensee

Kein Wunder also, wenn der kleine Spreeathener mit der sterilisierten Milch zugleich die Lust und Liebe zum Wasser einsaugt und von Jugend auf, von den Pumphosen an einen Einschlag ins Seemännische aufweist.

Am muntersten schlagen jugendliche Herzen, wenn es Sonntags hinaus ins Grüne an die Wasserkante geht.

Der erste Versuch

Schon am frühen Morgen bricht dann, mit den unvermeidlichen “Futterkörben” beladen, die Familienkarawane auf und fährt mit der Vorortbahn nach irgendeinem der zahlreichen schönen Punkte, wo sich Wald, Wiese und Wasser treffen, nach Tegel, Wannsee, Grünau, Müggelsee, und wie sie alle heißen mögen. Dort im lauschigen Revier am Waldesrand, zwischen dem Schilfrohr, dessen Schäfte das graugrüne Wasser bespült, im Angesicht der schimmernden, zitternden Seefläche entwickelt sich dann ein richtiges Strandleben. Hat man ein Plätzchen gefunden, das sich nach sorgfältiger Untersuchung als ameisenfrei erweist, so wird ein Lager aufgeschlagen, und die sorgsame Hausmutter beginnt alsbald mit der Fütterung der Lieben, während Vater, kaum seßhaft geworden, sich schon „eine Zigarre ins Gesicht steckt”, “um die schöne Luft besser zu genießen”, und nach einer Gelegenheit zum männermordenden Skat ausspäht. Töchter heiratsfähigen Alters entdecken überraschend schnell Bekanntschaften aus dem stärkeren Geschlecht – „ganz zufällig“ natürlich!

Berliner Strandleben

Die Kinder aber stürzen sich mit jenem Indianergeheul, ohne das die richtige Berliner Range nun einmal nicht leben kann, sofort aufs Wasser und reduzieren die irdische Hülle auf ein Minimum, um nach Lust darin herumzuplätschern. Zwar ist, wie so ziemlich alles andere, auch das Baden in freier Natur “verboten”, aber zum Glück sind manche Gesetze nur dazu da, um übertreten zu werden, und die Behörden sind einsichtsvoll genug, das Sonntagsvergnügen kleiner Leute nicht ohne dringenden Anlaß zu schmälern.

Der jüngste Nachwuchs unserer Marine

Ruderer und Segler nehmen sich häufig Zelte mit sowie alles, was zum Kampieren nötig ist, und veranstalten dann am Wasserrand im Grünen ein Lagerleben, dessen köstliche Ungebundenheit sich von jenem in Schillers “Räubern” nur durch den Mangel an räuberischer Gesinnung unterscheidet.

Nach dem Familienbad – Im mitgebrachten Zelt

Dieser Artikel von Walter Tiedemann erschien zuerst 1905 in Die Woche. Die Bilder wurden nachcoloriert.