Ausländer in Berlin

Ist Berlin nun eine Weltstadt oder nicht? Der hitzige Lokalpatriot sagt unbedingt ja, der kühlere Kritiker zuckt die Achseln. Um die Frage beantworten zu können, müßte man sich erst über den Begriff Weltstadt im klaren sein. Soll darunter eine möglichst buntscheckige, kontrastreiche Zugammensetzung der Einwohnerschaft aus vielen Volksstämmen, ein auffälliges Hervortreten internationalen Lebens und Treibens verstanden werden, so kann Berlin sich nicht zu den Weltstädten rechnen, sondern wird von mancher kleineren Stadt, wie z. B. Konstantinopel, darin weit übertroffen. Denkt man aber beim Wort Weltstadt mehr an einen wirtschaftlichen Brennpunkt geistiger und materieller Arbeit, einen Mittelpunkt weltumspannender Industrie, einen Regulator in der ungeheuren Maschinerie des Weltgetriebes, so darf Berlin zweifellos Anspruch auf diesen Titel erheben.

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Wenn hier und da behauptet wird, daß der richtige Berliner wenig Weltstädtisches an sich habe, so mag er sich mit der Tatsache trösten, daß er darin keineswegs hinter dem Pariser oder Londoner zurücksteht. Jede noch so große Großstadt ist schließlich weiter nichts als ein Konglomerat von Kleinstädten, deren Welt sich im engen Kreis dreht, und wo um jedes Viertel sein festumrissenes Gepräge und seinen Kantongeist aufweist. Man findet selbst in den anerkannten Weltstädten immer nur eine verhältnismäßig kleine Einwohnerschicht, die in der Art ihrer weiten Auffassung, in der überlegenen Sicherheit des Auftretens und in der kühlen Ruhe gegenüber allem Befremdlichen wahrhaft weltstädtischen Geist bekundet.

Ein Sohn des Reiches der Mitte auf dem Markt

Trotz seines großen und ständig wachsenden Fremdenverkehrs ist Berlin keine eigentliche Fremdenstadt wie etwa Paris oder Rom, auch besitzt es nicht so starke, fest ansässige Fremdenkolonien wie London, wo z. B. mehr Deutsche leben als in mancher großen deutschen Provinzhauptstadt. Das intensive Arbeits- und Verkehrsleben Berlins füllt seine Form so vollkommen aus, daß selbst ein gewaltiger Fremdenstrom sich nach außen hin nur wenig bemerkbar macht.

Die Negerköchin kommt vom Wochenmarkt

Aber es gibt keinen deutschen Gau, kein europäisches und außereuropäisches Kulturland, von dem nicht eine mehr oder minder große Zahl von Angehörigen dauernd in Berlin lebt. Natürlich fallen in einem Zeitalter, das die Kleiderfrage der Kulturmenschen zwischen Nord- und Südpol einheitlich geregelt hat, diese fremden Kolonisten im Straßenbild nur dann auf, wenn sie abweichende Körpereigenschaften oder fremdartige Kostüme zeigen und aus diesem Grund führt uns der photographische Apparat auf den beigefügten Augenblicksaufnahmen auch nur exotische Volkstypen vor. Betrachten wir zunächst die Japaner. Vor Ausbruch des jüngsten Krieges war die japanische Kolonie Berlins sehr beträchtlich. dann aber rief das Vaterland fast alle Mitglieder heim, und erst nach und nach beginnen sie nun wieder nach Berlin zu kommen. Die Söhne Nippons, zumeist Studierende und Ingenieure, haben sich mit ihrem stark ausgeprägten Nationalgeist hier ein ganz hübsches Nest zu bereiten verstanden; sie halten gut zusammen, finden ihren gesellschaftlichen Mittelpunkt in einem Klub vornehmen Stils und können sich, wenn es ihnen beliebt, in einem eigens zu diesem Zweck begründeten Privatspeisehaus die dem Europäer nicht ganz verständlichen Erzeugnisse japanischer Nationalküche zu Gemüte führen. In der Oeffentlichkeit tragen die Japaner natürlich vollkommen abendländische Tracht, nur die heitere Kindermaid, die unsere Aufnahme zeigt, ist dem bequemen heimischen Kimono treu geblieben – und mit Recht, denn im modernen Kostüm verliert eine Japanerin gar zu viel von ihrer natürlichen Anmut.

Der schwarze Militärmusiker in Podsdam

In früheren Jahren sah man auf den Berliner Straßen ziemlich häufig Chinesen, während sie jetzt nur selten vorkommen.

Der Grund liegt einfach darin, daß selbst diese sonst so konservativen Herrschaften sich europäischen Formen anbequemen. Zur Zeit der Chinaexpedition trugen die hier ansässigen Chinesen Bedenken, sich in ihrem Nationalgewande auf der Straße zu zeigen, obwohl natürlich niemand den harmlosen Leuten etwas zu leide getan hätte;sie legen seitdem häufig moderne Kleider an und verbergen den aufgesteckten Zopf unterm Hut. Es ist schade, daß man die originellen, malerischen Chinesenkostüme nicht öfter auf den Straßen sieht, denn sie bringen doch etwas Lebhaftigkeit in das triste Einerlei der Farben und Formen unserer Alltagstracht.

Japanisches Kindermädchen mit ihren Zöglingen

Zahlreicher als die Angehörigen der gelben Rasse sind in Berlin die “Schwarzen” – das angebliche Schwarz besteht oft nur in einem zarten Bronzeton – aber sie nehmen zumeist bescheidene Stellungen ein. Unsere Aufnahmen zeigen u. a. ein farbiges “Mädchen für alles” beim Einkauf, einen strammen dunklen Militär aus Potsdam und ein paar frische farbige Schulknaben, die sich sonst in nichts von echten Berliner Jungen unterscheiden.

Inderin als Kinderfrau

Unter den mannigfachen eigenartigen Ammen- und Kindermädchentypen, denen man in den Anlagen des vornehmen Westens begegnet, fällt auch eine Indierin auf. Sie trägt, wie unsere Aufnahme zeigt, ihr Nationalgewand, allerdings mit einigen Ergänzungen, die dem nordischen Klima und unsern von den am Ganges üblichen Sitten etwas abweichenden Anschauungen angepaßt sind.

Eine Reisegesellschaft junger Japaner Unter den Linden

Dieser Artikel von 1905 erschien zuerst in Die Woche.