Ostender Strandfreuden

Wenn in der Hochsaison das Glockenspiel von dem großen Marktplatz her in lieblicher Melodie die zehnte Morgenstunde verkündet, beginnt es auf der Digue, der vornehmen Strandpromenade Ostendes, lebendigzuwerden.

Kostbare Toiletten rauschen an einem vorbei, englische Lords, deutsche Grafen und französische Ducs wandeln durch die bunte Menge, Gigerl, Modenarren und Abenteurer jeder Nationalität schlendern müßig auf und ab, fröhliche Kinder tollen spatenbewaffnet hinter ihrer “Mademoiselle” her, Badelustige eilen in Scharen den Freuden des Seebads entgegen – kurz alles, was Beine hat, hat sich auf dem breiten Pflaster der schier endlosen Digue ein Rendezvous gegeben.

Rückkehr vom Krabbenfang

Aber das Endziel der meisten ist keineswegs die elegante Promenade vor dem terrassengeschmückten Häusermeer, sondern der prächtige, weiße Strand, wo groß und klein, frei von lästigem Toilettenzwang, sich einem göttlichen „dolce far niente“ und kindlichem Spiel hingeben und in ungezwungener Ausgelassenheit nach Herzenslust herumtummeln können, wenn sie nicht zu jenen gehören, die sich nur im Strudel des gesellschaftlichen Lebens oder gar bei Spiel und Trank wohl zu fühlen glauben.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Derer gibt es allerdings in Ostende genug, auch heute noch, trotzdem die Stimme der Croupiers nicht mehr zum staatlich sanktionierten Roulettetisch ruft.

Mädchenwettlaufen am Strand – der Start

Der Ostender Strand, den man mit Recht das Paradies der Kinder zu nennen pflegt, bildet ein Reich, ja eine Welt für sich, von der die Kleinen träumen wie von einem Märchenland. Keine noch so reich ausgestattete Kinderstube, kein noch so prächtiger Garten und kaum ein anderer Strand Europas bieten ihnen so manigfaltige, so herrliche Freuden wie die gefahrlose, ideal gelegene „Plage“ Ostendes, die zweifellos für die Mehrzahl der alljährlich wiederkehrenden Besucher die größte Anziehungskraft des bekannten Seebads bildet.

Mädchenwettlaufen am Strand – ein Hindernis wird glücklich genommen

Aber was tut man auch nicht alles für die kleinen Badegäste, um ihnen die Freude am Dasein zu erhöhen und ihr Wohlbefinden zu fördern! Auch das Kinderleben muß man vor Eintönigkeit zu schützen suchen, und wenn die Erwachsenen sich am Sport erholen und stärken, soll man den Kleinen die Vorteile gesunder Bewegung erst recht zugute kommen lassen. Das hat man in Ostende sowie in andern belgischen Seebädern schon längst erkannt. In interessantem, den Ehrgeiz und die Verträglichkeit förderndem Wettbewerb läßt man daher die Mädchen und die Knaben um die Wette laufen, springen und Sandburgen graben, und wie anders wirkt das als die eintönige, leere Spielerei! Davon kann man sich dort am besten überzeugen, wenn man die fröhlichen, originellen Spiele der internationalen Kinderschar beobachtet, die den Ansporn geben zu geselligem Verkehr und einem dem Kind so nützlichen Austausch von Gedanken.

Eine Burgenkonkurenz

Ueberall herrscht frohe Stimmung, die mit dem Fortschreiten der Saison ständig zunimmt und die lustige Kindergesellschaft immer mehr vereint, bis endlich der Tag des Abschieds herangekommen ist und die Kleinen, “zu Tode betrübt”, ihre Spaten, Netze und Eimer beiseite legen und von ihrem Paradies Abschied nehmen müssen.

Aber auch den Papas und Mamas die das fröhliche Strand leben wieder um zehn Jahre verjüngt hat, und die so manche Sandburg mitbauen, manchen übermütigen Kinderstreich mitspielen mußten, sieht man es bei ihrem Scheiden von diesem lieblichen Stück der Nordseeküste an, daß ihnen die Trennung schwer fällt.

Collage

Dieser Artikel von A. Pitcairn Knowles erschien zuerst 1905 in Die Woche.