Bilder aus dem Aufstandsgebiet in China

Jahrhundertelang lag über dem ungeheuren, völkerwimmelnden Gebiet der Riesenströme Jangtsekiang und Hoangho, die nach alter chinesischer Sage von den Quellen des Himmels gespeist werden, die Ruhe eines Kirchhofs. Nur der Eingeweihte, dem es vergönnt war, den Schleier zu lüften, den eine starre Abgeschlossenheit über dies eigenartigste Staatengebilde unseres Planeten gebreitet, sah, wie dies zahllose Volk, das eine verknöcherte Kultur mit ehernen Banden an die tote Vergangenheit fesselte, von Leidenschaften zerfressen, von Revolutionen aufgewühlt war.

Nach außen hin störte nur zuweilen das krampfhafte Zucken des in langsamer Agonie verendenden Staatskörpers den Frieden. Generationen auf Generationen erstanden und bedeckten das Land in beängstigender Fülle. Dazu kam, daß die Religion die Toten nicht schlafen ließ.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Ein bis ins Wahnwitzige gesteigerter Geisterkult erfüllte die Herzen, und die Städte der Toten stritten um den kostbaren Boden mit den Städten der Lebenden. So standen die Dinge, als dieselbe Uebervölkerung, die die Chinesen zwang, in Armut und Elend zu tausenden auf der alten Muttererde zusammenzuhausen, die frischeren Völker des Westens über das Meer hinaustrieb, um für ihren Unternehmunasgeist neue Gebiete zu erobern. An das bunte Drachenthor des chinesischen Reichs klopfte mahnend eine neue Zeit.

Strassenbild aus China – Boxer als Theeträger

Der Europäer, der in unsern Tagen dies alte Kulturland betritt, wird von einem Gefühl bangen Staunens gepackt. Wenn er die fruchtbare Ebene durchreitet, die sich um die Hauptstadt der Mandschudynastie, Peking, ausbreitet, starren ihm von allen Seiten die Zeugen einer Kultur entgegen, die weder Schönheit noch Größe jemals gekannt hat. Er findet die Grabdenkmäler von ganzen Dynastien, deren Regierung weiter zurückliegt, als seine Phantasie auszudenken vermag.

Speisesaal der deutschen Gesandtschaft in der Sommerresidenz zu Tachiaosze bei Peking

Der Jahrhundertbegriff ist für die chinesische Zeitrechnung eine zu niedrig gegriffene Einheit, und was für den Europäer die Grenze der Geschichte, ist für den Chinesen nur ein Abschnitt in der unendlichen Kette. Und auf den Denkmälern dieser vergangenen Epochen breitet sich nun das fremdartige Treiben der Europäer aus. In der heiligen Hauptstadt hausen die fremden Gesandten, und in die vielverzweigten Institutionen des Riesenreichs greifen sie mit herrischer Hand ein.

Klemens Freiherr von Ketteler, deutscher Gesandter in China

Den Boden, in dem die Seelen der Gestorbenen wohnen, durchwühlt der Spaten, und den Frieden der Totenstädte stört der schrille Pfiff der Lokomotive.

Eingang zur Sommerresidenz der deutschen Gesandtschaft in Tachiaosze

Aber eine so festgewurzelte Kultur ist nicht in einem Ansturm über den Haufen zu werfen.

Die Ebene von Peking, von der Sommerresidenz Tachiaosze aus aufgenommen

Starr hält der Chinese an seinen alten Göttern fest, und sie sind es, die ihm das Veraltete heilig erhalten. Doch unter dem eisernen Druck der Not lösen sich die alten sozialen Verbände. Wenn ein dampfendes Eisenungeheuer mit einem Schlag tausende von Menschen, die bisher als Träger und Fuhrleute ihr Leben gefristet, brotlos macht, dann verzweifelt auch der stumpfe Chinese, und sein Gleichmut verwandelt sich in Groll. Kann man es diesen Menschen verübeln, wenn sie einmal mit der ganzen Wildheit des Barbaren gegen die andern Rassen losbrechen, wenn sie die Drachenfahnen erheben und mit ersterbender Kraft kämpfen für das Alte, Urheilige, über das hinaus es für sie nichts Gutes, nichts Anbetungswürdiges mehr giebt?

Chinesische Mauer in Petschili – Letztes Dorf vor dem Nankangpass

Es ist ein furchtbarer Gedanke, den auszudenken die zahme Phantasie des europäischen Kulturmenschen sich sträubt, daß einmal diese ungeheure Völkerflutwelle entfesselt werden und mit vernichtender Gewalt über uns herbrausen könnte.

Alter Tempel in Tachiaosze bei Peking, langjährige Sommerresidenz des deutschen Gesandten

Aber dazu ist keine Gefahr. Noch grüßen die Sinnen der alten chinesischen Mauer von den Bergen. Vor Jahrhunderten hat sie die Chinesen, die niemals an Angriff gedacht, gegen die Tataren verteidigt heute schützt sie nicht mehr gegen die Kosaken.

Dieser Artikel von Karl von Dahlen erschien zuerst 1900 in Die Woche.