Die neue katholische Westminster-Kathedrale für London

Architekt: John F, Bentley. Am Sonnabend, den 29. Juni d. J. legte der Erzbischof von Westminster in London, Kardinal Herbert Vaughan, in Gegenwart einer glänzenden Versammlung von Priestern und Laien, unter ihnen die diplomatischen Vertreter der katholischen Länder am englischen Hofe, den Grundstein zu der neuen römisch-katholischen Kathedrale in Westminster.

Der Charakter der Feierlichkeit liess darauf schliessen, dass das neue Gotteshaus ein Bauwerk von nicht gewöhnlicher Bedeutung werden wird. London besass bisher nur eine Aushilfs-Kathedrale im Stadttheile Kensington, während das kanonische Gesetz vorschreibt, dass jede Diözese eine eigene Kathedrale besitze. Bei den Vorarbeiten für die Errichtung der neuen Kathedrale waren ferner die Erwägungen maassgebend, dass in einem Lande wie England die hauptstädtische Gemeinde nicht ohne eine Mutterkirche sein dürfe und dass es erwünscht wäre, in der Hauptstadt des britischen Reichs täglich liturgischen Gesang zu hören, wie ihn die Benediktiner Mönche seit Alters in Canterbury üben. Ausserdem würde die neue Kathedrale zu Synoden, Versammlungen, Konferenzen, Vorlesungen usw. für die ganze Hierarchie und Geistlichkeit zu dienen haben.

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Der schon seit 12 Jahren zur Verfügung stehende Bauplatz für die neue Kirche hat eine für die Bestimmung der Kathedrale hervorragend günstige Lage. Etwa ½ engl. Meile von Hvde Park Corner entfernt. in der Nähe der Victoriastrasse, in einem Stadtviertel, in welchem sich das Parlamentshaus, die Regierungsgebäude, die königlichen Paläste und das alte Münster befinden, in dem die englischen Könige gekrönt werden, wird die neue Kathedrale thatsächlich im Herzen und Mittelpunkt der Stadt und damit des Reiches liegen.

Mit dem Entwurf für die Kirche wurde John F. Bentley, ein Architekt betraut, der sich durch eine Reihe von Ausführungen im gothischen Stile, sowie durch eine Anzahl von Wiederherstellungen und Ausschmückungen von Bauwerken im Stile der Renaissance den Ruf eines künstlerisch bewährten Architekten erworben hat. Man wird mit Interesse vernehmen, dass zuerst der Gedanke bestand, die neue Kathedrale im Stile der alten Peterskirche in Rom zu errichten und Bentley verbrachte in der That mehre Monate in Italien, besonders in Rom, Ravenna und anderen für die Entwicklung der Basilika wichtigen Städte, um aufgrund eines umfangreichen Sammelmateriales die ersten Gedanken für einen Entwurf im Stile der altchristlichen Basilika zu fassen. Er kam jedoch im Laufe weiterer Studien zu der Ansicht. dass sich die altchristliche Basilika nicht für eine Behandlung nach modernen Grundzügen und Bedürfnissen, namentlich nicht für Londoner Verhältnisse eigne. Der architektonische Reiz. der von anderen Bauwerken entlehnten Säulen lässt sich nicht nachahmen; die Schönheiten des hölzernen Dachstuhles müssen den modernen Forderungen der Feuersicherheit weichen usw.; kurzum er stand von dem Gedanken ab und wandte sich einem glücklicheren zu, die neue Kirche in den Formen des byzantinischen Stiles mit Benutzung von San Marco in Venedig, San Vitale in Ravenna und San Ambrogio in Mailand zu entwerfen. In dieser Fassung wird sie durch die beistehenden Abbildungen vorgeführt.

Grundriss
Die neue katholische Westminster-Kathedrale für London. Perspektive

Der Grundriss der Kirche bedeckt eine Fläche von etwa 54000’ engl. = 5024 qm, die Länge der Kirche wird 350’ = 106,75 m, die gesammte Breite 156’ = 47,6 m betragen.

Die äussere Höhe des Schiffes wird 90’ = 27,5 m erreichen. Im Innern wird dasselbe bei 280’ = 85,1 m Länge eine lichte Weite von 60’ = 18,3 m haben. Das Schiff besteht aus 4 grossen Gewölbe-Systemen von welchem sich an das dritte, vom Haupteingang an gerechnet, eine Art Querschiff rechts und links angliedert, während das vierte Gewölbe-System den Altarraum mit Chorgestühl überdeckt. An den Altarraum schliesst sich in der Hauptaxe eine absidenartig angebaute Krypta. Gegen die seitlichen Theile des Querschiffes öffnen sich 2 grössere Kapellen, die eine der hl. Jungfrau, die andere dem St. Petrus geweiht. Je 2 kleinere Kapellen, die sich rechts und links an die vorderen beiden Gowölbe-Systeme anschliessen, machen aus dem Grundriss eine Art versteckter fünfschiffiger Anlage. Ein Haupt- und 2 Seiteneingänge gewähren Zutritt zu dem durch hohes Seitenlicht erleuchteten, als basilikale Anlage durchgeführten Innern. Das Gewölbe-System mit seinen Untertheilungen ist aus der Innenansicht deutlich zu ersehen. Reiche Untertheilungen in glücklichen Maasstabe hat der Altarraum erfahren, in dem die Mensa unter einem von 4 Säulen getragenen altchristlichen Baldachin steht. Die perspektivische Wirkung gegen den Altarraum mit dem Schlussblick in das Gewölbe hinter der Altarschranke ist eine ausserordentlich glückliche. Von gleich glücklicher Wirkung ist der Gesammteindruck des Innern, bei dem das Prinzip der breiten, für reiche Darstellungen in Mosaik und anderer Monumental-Malerei vorbereiteten Flächen mit hoher künstlerischer Vollendung durchgeführt ist.

Von nicht gleich glücklicher Wirkung scheint mir das Aeussere zu sein. Das Suchen nach einer eigenartigen Gestaltung desselben, vermischt mit der Absicht, der heimischen Gewöhnung möglichst Rechnung zu tragen, hat zu Formen geführt, welche an orientalische Einflüsse erinnern, die, wenn sie auch z. B. an San Marco in Venedig in so schöner Weise mit den einheimischen Bildungen verquickt sind, doch hier nicht eine solche Verquickung erfahren haben, wenigstens nicht eine solche, dass sie einen deutlichen Unterschied gegenüber den für das jüdische Kultgebäude vielfach gebräuchlichen Formen ergäbe. Der Eindruck der Synagoge drängt sich sofort auf und wird auch durch den gewaltigen Thurm, links vom Eingang sein stolzes. Haupt in die Lüfte reckt, nicht paralysirt. Im Gegentheil: während der untere, Theil von venetianischen Vorbildern beeinflusst ist, verstärkt der obere Theil nur noch den eben geäusserten Eindruck. Diese s Urtheil ist allerdings ein Urtheil nach einer Skizze, die zweifellos in der Ausführung Veränderungen erfahren wird, die aber nichtsdestoweniger schon in dieser Form die Absichten des Künstlers deutlich in die Erscheinung treten lässt.

Aber nicht nur in der Formensprache, sondern auch harmonischen Vertheilung der Massen und in der Wahl der Abmessungen scheint mir das Aeussere dem Inneren nachzustehen. Ich möchte jedoch angesichts des kleinen Maasstabes der Zeichnung darauf verzichten, hierauf näher einzugehen. Im Grossen und Ganzen darf man der Bewunderung über die Bewältigung der Massen und die künstlerische Beherrschung des dekorativen Elementes, kurzum über den künstlerischen Gesammt-Eindruck, insbesondere des Inneren lauten Ausdruck geben. Das vollendete Gotteshaus wird künstlerisch und stilistisch, letzteres, weil es nicht gothisch ist, was weite künstlerische Kreise nicht verschmerzen können, was aber mit Absicht umgangen ist, um nicht eine Nebenbuhlerschaft zwischen der neuen Kathedrale und der benachbarten Westminster-Abtei hervorzurufen, in der architektonischen Entwicklung der englischen Hauptstadt eine bemerkenswerthe Stellung einnehmen.

Die neue katholische Westminster-Kathedrale für London. Arch. John F. Bentley

Zur Vollendung des Gebäudes ausschliesslich des Schmuckes an Malerei und Mosaik wird es eines Zeitraumes von 2 Jahren bedürfen, man hofft die Kirche zur 13. Centenar-Feier der Landung des hl. Augustin in England dem gottesdienstlichen Gebrauche übergeben zu können. Die Bausumme ist auf 150000 Lstr. = 3 Mill. M festgesetzt, die aber, wie wir glauben, nicht wird eingehalten werden können. Dieser Umstand aber wird das Baukomité angesichts namhafter Spenden und Stiftungen kaum in Verlegenheit bringen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 03.08.1895 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit “-H.-“