Von Konstantin von Zedlitz, London. Betritt ein Neuling den engen Sitzungssaal des englischen Unterhauses, so ist das erste, was ihm in die verwunderten Augen fällt, ein paar mit Gamaschen zierlich bekleideter Lackstiefel, die auf dem Rand des Tisches vor dem Präsidenten liegen. sieht er genauer hin, so bemerkt er, daß in diesen Stiefeln zwei männliche Beine von unheimlicher Länge stecken.
Ein dritter Blick belehrt ihn, daß diese schier unermeßlichen Beine sich nach einer Bank hin senken und dort zu einem kurzen, hohlbrüstigen Rumpf zusammenwachsen, der tief in den Sitzpolstern lehnt. Auf der hohlen Brust ruht mit dem bartlosen Kinn ein schmaler Kopf mit über den Ohren gewelltem Haar. Auf der Nase balanziert ein Zwicker. Die Augenlider dahinter sind geschlossen. Die langen, dünnen Arme stecken beinah bis an die Ellbogen in den Hosentaschen.
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Würde der Neuling nicht rechtzeitig belehrt, daß dieses Jammerbild den wichtigsten Mann im ganzen Haus, den Premierminister des britischen Weltreichs, Arthur J. Balfour darstellt, er würde ausrufen: „Dort sitzt ja die leibhaftige Schlappheit!“
Ein solches Urteil wäre grundfalsch. Diese Nonchalance ist erkünstelt. Balfour ist ein routinierter Schauspieler. Aeußerlich „döst“ er, innerlich spitzt er die Ohren. Er weiß, daß diese scheinbar schläfrige Indifferenz den Eindruck seiner Reden erhöht, die dann mehr wie aus dem Stegreif erscheinen. Und er spricht nie, ohne Eindruck zu machen. Er ist kein so schneidiger Redner, wie sein Kollege Chamberlain, kein so geistreicher, wie Lord Rosebery, kein so beißend sarkastischer, wie sein Oheim Lord Salisbury, aber ein formgewandter und immer fesselnder. Er macht mehr den Eindruck eines eleganten Caufeurs als eines Parlamentsredners, spricht gern mezza voce und stets ein bißchen von oben herab. Das ist nicht bloß Pose. Es giebt keinen größeren Verächter des Parlamentarismus, als den Abgeordneten und Minister Balfour, der trotz seiner verbindlichen Umgangsformen und seiner konzilianten politischen Manieren einer der hochmütigsten Köpfe des hochmütigen englischen Adels ist. Keiner namentlich trägt seine Verachtung alles Liberalismus so unverhüllt zur Schau. Neulich that er in einer großen politischen Versammlung in Glasgow, als habe er den Namen des Oppositionsführers vergessen.
Viele Deutsche halten Balfour, weil er viel über Religion und Philosophie geschrieben hat, für das, was man bei uns einen Gemütsmenschen nennt. Nichts ist verkehrter. Irland hat in den hundert Jahren, die es an England gekettet ist, die Hand des Machtabers nie so schwer gefühlt, als während der achtziger Jahre Balfour als Chefsekretär des Vizekönigs dort schaltete. Es zeigte sich damals, daß er nicht umsonst den Vornamen des eisernen Herzogs von Wellington trägt, der ihn einst über die Taufe gehalten. Einmal fragte er einen irischen Bischof: „Hassen mich die Iren wirklich so sehr ?“ – „Wenn die Iren den Teufel so haßten, wie Sie,“ antwortete der Bischof, „dann könnte mein Amt abgeschafft werden.“ In jener Zeit bekam Balfour, den man zehn Jahre vorher bei seinem Eintritt ins Parlament wegen seiner marklosen Erscheinung und seiner parfümierten Batisttaschentücher „Fräulein Fanny“ benannt hatte, den Spitznamen „blutiger Arthur“. – Den Reiz, den der begabte junge Politiker, dem als Schwestersohn Lord Salisburys eine glänzende Laufbahn sicher war, auf die aristokratische Weiblichkeit ausübte, erhöhte das nur. Lange gehörte er einer Koterie an, die unter dem Titel „Souls“ (Seelen) eine Art schöngeistigen Freimaurertums bildete. Die Damen dieser Gesellschaft sah man gelegentlich auf der Rennbahn oder in der Oper in die Lektüre eines wissenschaftlichen Werkes vertieft. Eingeweihte behaupten, das Ganze sei ein Syndikat weiblicher Schlauberger gewesen, die Balfour unter Ausbeutung seiner philosophisch-litterarischen Neigungen ins Ehejoch locken wollten. Vergebliche Mühe. Der Vielumschwärmte ist noch heute, im fünfundfünfzigsten Lebensjahr, eine Zierde der Hagestolze.
So wenig man das seinem Aeußern ansieht, sein Herz gehört dem Sport. Er ist seit Jahren ein eifriger Golfspieler und vielleicht der passionierteste Automobilist von ganz England. Sein Ruf als Lenker des Selbstfahrers ist so unbestritten, daß boshafte Menschen prophezeien, sein Name werde in den Annalen des Automobilismus heller leuchten und länger leben, als in denen der Staatskunst. Das ist wohl möglich; denn im politischen England von heute ist zweifellos Joseph Chamberlain der Lenker, Balfour dagegen, obwohl nominell Kabinettschef, nur – das ministerielle Automobil.
Dieser Artikel erschien zuerst am 11.10.1902 in Die Woche.