Ein Negerstaat in Aufruhr

Der Negerstaat Haiti wird augenblicklich wieder einmal von inneren Unruhen zerrissen. Es sind dort die Wahlen zum Parlament im Gange, und da es die Aufgabe des letzteren ist, einen neuen Präsidenten der Republik zu wählen, so schlagen und schießen sich die Patrioten allerorten und Enden.

In vielen Ortschaften konnte wegen der Ruhestörungen und des Blutvergießens überhaupt keine Wahl vorgenommen werden, und in Port au Prince machten die Gegner des gewählten Deputierten einen Angriff auf das Arsenal, der aber blutig abgeschlagen wurde. Der bisherige Präsident aber Tirésias Augustin Simon Sam, befindet sich auf der Reise nach Paris. Seinem Beispiel ist die Mehrzahl seiner bisherigen Minister gefolgt und hat sich außer Lande begeben. Boisrond Canal, Präsident der Republik von 1870/79, fungiert vorläufig als provisorisches Oberhaupt des Landes und führt die Regierung mit Hilfe eines aus elf Personen bestehenden Sicherheitsausschusses. Der Rücktritt und die Flucht Sams aber sind unter Vorgängen erfolgt, die für haitianische Verhältnisse bezeichnend sind. Sam, der vor seiner Präsidentschaft Kriegsminister war, wurde am 1. April 1896 von den Kammern in friedlicher Weise zum Präsidenten von Haiti erwählt, versehentlich bis zum 15. Mai 1903, während von Rechts wegen sein Amtstermin am 15. Mai dieses Jahres abgelaufen wäre. Aber aus Rücksicht auf seine große und einflußreiche Familie, auf seine Freunde und Berater, die sich alle an der öffentlichen Krippe nähren wollten, ließ er sich bewegen, sich über die Verfassung hinwegzusetzen. Seine Regierung brachte dem Lande keinen Nutzen und Segen und war teuer, das Defizit stieg währenddem auf über 40 Millionen Frank – keine Kleinigkeit für eine Bevölkerung von nur zwei Millionen. Dabei bezog Sam ein Gehalt von 24 000 Dollars in Gold und wußte außerdem seinen Vorteil so wahrzunehmen, daß er sich jetzt mit einem Vermögen von vier Millionen – nach einer andern Lesart gar zwölf Millionen – ins Privatleben zurückziehen kann. Seine Günstlinge, in erster Linie die Generale ohne Soldaten, hatten freie Hand. Wer sich nicht fügte, wer sich unbequem machte, wurde verfolgt, mußte flüchten, wurde verbannt oder eingekerkert, und manchmal „starb“ man auch im Gefängnis.

Sam selbst ist ein großer, schwerfälliger Neger, über sechzig Jahre alt, dem nichts heilig ist.

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Politisch war er bedeutungslos, ganz von seinen Ministern abhängig. Er besitzt aber ein gutes Gedächtnis, etwas Humor und Witz, einen guten Appetit und ist ein vorzüglicher Reiter. Als es bekannt wurde, daß er beschlossen habe, dem Land noch ein Jahr den Segen seiner Regierung zu schenken, brach der Sturm los. Allenthalben regten und rührten sich die Unzufriedenen, und einer der Aspiranten auf die Präsidentschaft, Anténor Firmin, der Verfechter der schwarzen Rasse und ihrer Zukunft, erhob die Fahne des Aufruhrs. Firmin ist ein ehrlicher, geistreicher und gebildeter Mann, früher Minister und Gesandter in Paris, selbstbewußt und eigensinnig und von unvermischtem Negerblut. Aber Firmins Rebellion würde Sam nicht zum Rücktritt vermocht haben, wenn nicht die unangenehme Geschichte mit dem Franzosen Gabriel vorgefallen wäre. Dieser war durch Leute der Regierung in brutalster Weise ermordet worden. Niemand wollte der Anstifter, der Schuldige sein, und man hoffte, der Vorfall werde vergessen werden, wie so viele andere. Aber diesmal hatte die Regierung Sams die Volksmeinung und das Volksgefühl unterschätzt; überall gärte es bedrohlich, und den hohen Herren ward angst und bange. Und plötzlich, ohne seine Verwandten und seine Minister vorher davon in Kenntnis zu setzen, faßte Sam den Entschluß, die Regierung niederzulegen.

A. Firmin, früherer Minister und Gesandter in Paris
T. A. S. Sam, bisher Präsident von Haiti

Eines schönen Morgens – es war der 10. Mai zog eine Abteilung Soldaten mit Trommelwirbel durch die Straßen, und ein Offizier las dem erstaunten Volk die Botschaft vor: der Präsident wird am 15. Mai gehen!

Jetzt galt es, Hals über Kopf einen neuen Präsidenten zu wählen. Am Morgen des 12. Mai trat die Assemblée Nationale im Parlamentsgebäude zusammen, um die Wahl vorzunehmen. Hoch zu Roß erschien Präsident Sam an der Spitze seiner Krieger, umgeben von seinen Ministern und andern Großwürdenträgern. Auf dem Hof des Kammergebäudes wimmelte es von Soldaten, die einige ehrwürdige Kanonen und Mitrailleusen von 1870 mitgeschleppt hatten. Sam hatte seiner Zeit mit Frankreich einen sehr günstigen Handelsvertrag – günstig für Frankreich nämlich – abgeschlossen und dafür das schöne Kreuz der Kommandeure der Ehrenlegion und jene Pfefferbüchsen als Trinkgeld erhalten. In der Kammer sah man wichtige Mienen, lange Gehröcke und hohe Zylinderhüte. Sam hatte den Senatoren und Deputierten erst den bisherigen „Administrateur des Finances“ Maxime Montplaisir und dann seinen Kriegsminister Vilbrun Guillaume vorgeschlagen. Aber beide Körperschaften lehnten deren Wahl einstimmig ab, da man keine Kreatur Sams zum Präsidenten haben wollte. Außerdem aber hatte ein früherer Ackerbauminister Cincinnatus Leconte, ein unternehmender, fortschrittlicher und fremdenfreundlicher guter Geschäftsmann, von seinem Reichtum, wie allgemein behauptet wurde, klugen Gebrauch gemacht und die Mehrheit der Kammern gekauft. Seine Wahl schien gesichert. Schon war er von einigen Rednern in Vorschlag gebracht worden: da lauter Tumult draußen, Schüsse krachten, einige Kugeln schlugen in den Sitzungssaal, und in wilder Aufregung stob die Versammlung auseinander. Die Revolutionäre, die keinen von den jetzigen, unter dem Druck der bisherigen Regierung gewählten Kammern eingesetzten Präsidenten haben wollten, hatten sich erhoben und die Sitzung der Kammern gesprengt. Bis zum Spätnachmittag währte die Knallerei in den Straßen zwischen den Soldaten und den Revolutionären. Viel Schaden wurde nicht angerichtet. Auf beiden Seiten gab es etwa zwanzig Tote und Verwundete.

Aber die Revolutionäre hatten ihren Zweck erreicht. Die Wahl des neuen Präsidenten war vereitelt.

Präsident Sam an der Spitze haitianischer Soldaten

Präsident Sam hatte sich in den Regierungspalast zurückgezogen, unter dem Schutz seiner zuverlässigen, ihm treuergebenen Leibgarde, und die Minister und andere persönliche Racheakte fürchtenden Personen hatten sich in die Konsulate geflüchtet. Am nächsten Morgen kam der Präsident zum Doyen des diplomatischen Korps, dem Vertreter der Vereinigten Staaten, und bat um Geleit vom Palast durch die Stadt nach dem Hafen, wo gerade ein französischer Postdampfer vor Anker lag, um sich nach Frankreich einzuschiffen. Nachdem der frühere Präsident Boisrond Canal, der die provisorische Regierung übernommen, Sam freies Geleit versprochen und für dessen Sicherheit Garantie geleistet hatte, fuhren der amerikanische, deutsche und französische Vertreter nach dem Palast, holten Sam und dessen Frau ab und brachten sie unter dem Geleit der Palastgarde an Bord des Dampfers. Unter amerikanischem und französischem Schutz haben sich dann auch der frühere Minister des Aeußern Brutus St. Viktor, Polizeiminister Tancréde Auguste, Kriegsminister Guillaume und Finanzminister P. Faine geflüchtet, Leconte hat das Land verlassen und nur der Justizminister Gédéus Gédéon hat von all den Ministern Sams den Mut gehabt, in Port au Prince auf Haiti zu bleiben.

Haitianisches Militär
Die Eröffnung der Kammern

Ein paar Tage nach der Flucht Sams gründete man, um doch eine verantwortliche Behörde zu haben, „le Comite de Salut Public“, mit Ablegern in allen größeren Ortschaften, und diese sandten Delegierte nach der Hauptstadt zur Wahl einer provisorischen Regierung. Hier und dort kam es bei der Wahl der Delegierten zu etwas Blutvergießen, aber im allgemeinen verliefen die Wahlen ruhig, die Delegierten kamen zusammen und setzten die provisorische Regierung ein. Diese soll jetzt dafür sorgen, daß die Wahlen für die Kammern, die dann den neuen Präsidenten zu erwählen haben, frei von aller Beeinflussung vor sich gehn. Das aber ist eine unmögliche Aufgabe, denn die Bewerber um die Präsidentschaft haben nicht umsonst im Exil geschmachtet und große Summen für ihre Anhänger ausgegeben, um jetzt ohne Kampf auf das Ziel ihres Ehrgeizes zu verzichten. Kandidaten sind außer dem bereits erwähnten Anténor Firmin der frühere Finanzminister Kalisthenes Fouchard und der frühere Kriegsminister und Senator Séndque Pierre. Fouchard, ein sehr heller Mulatte, ist ein vielerfahrener Mann, ein Kosmopolit, der manche trübe Erfahrungen im Gefängnis und in der Verbannung gemacht hat. Er wird besonders vom Süden des Landes unterstützt und gilt für fremdenfreundlich. Man erwartet von ihm, daß er den Wohlstand des Landes durch heranziehen fremder Kapitalisten zu heben suchen wird. Pierre ist der Kandidat des Mittelstandes. Er ist Grundbesitzer und Industrieller und besitzt große Juckerplantagen und Rumbrennereien. Sein Programm ist: Hebung des Landes durch Förderung der Industrie und des Ackerbaus.

Der Abschiedsgruß, den Sam von Bord des Dampfers aus seinem Vaterland zurief, waren die Worte: „Ich bin der letzte Präsident von Haiti!“ Mit andern Worten: nach mir der Bürgerkrieg und Anarchie, Einschreiten fremder Mächte, denen Annexionen u. s. w. folgen werden, Annexion durch die großmächtige nordamerikanische Republik, der die zwischen Kuba und Portorico gelegene Insel zur Abrundung ihres westindischen Besitzes sehr gut passen würde. Ob Sam recht haben wird ? Wer kann es wissen ? Was dem so schönen, so fruchtbaren, so reichen Land not thut, ist ein Präsident von klarem Kopf, weitem Blick, Ehrlichkeit und – einer eisernen Hand. Mit einem solchen Mann an der Spitze kann das gesegnete Land in Zukunft noch zu hoher Blüte gelangen, trotz seiner schwarzen Bevölkerung.

Dieser Artikel erschien zuerst am 02.08.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „F. E. O.“.

Das haitianische Rebellenschiff

Vor der Beschießung, die haitianische Besatzung verlässt das Schiff
Das Wrack des Créte á Pierrot nach der Beschießung

Das haitianische Rebellenschiff „Créte á Pierrot“ ist, wie unsere Leser wissen, zur Strafe für die Beraubung der „Marcomannia“ von dem deutschen Kanonenboot „Panther“ vernichtet worden. Ohne Zaudern folgte die Mannschaft unter Führung des Admirals Killick, der sich zum Parteigänger Firmins gemacht hatte, der Aufforderung, das Schiff zu verlassen. Zuvor aber legten die Haitianer selbst noch Feuer in die Pulverkammer des „Crete à Pierrot“. Ihre Sorge, daß Deutschland andernfalls das Schiff noch benutzen möchte, war hinfällig; nicht auf den Besitz, sondern auf die Vernichtung des alten Kahns war es abgesehen, und diese ist durch das Vorgehen der Haitianer noch erleichtert worden. Die Beschießung durch den „Panther“ bereitete dann der Existenz des Schiffes, dem der Untergang bestimmt war, ein schnelles Ende.

Dieser Artikel erschien zuerst am 04.10.1902 in Die Woche.