Im Land der weissen Nächte

Wenn man jetzt, da von dem kleinen eisernen nordischen Völkchen der Finnen allgemein so viel die Rede ist, durch Finnlands ernst-schöne Gauen wandert und da und dort in den hübschen Dörfern oder auf einsamem, hoch über den Saimasee schauendem Gehöft die wettergebräunten Männer zu stillem Rat versammelt sieht im Schimmer der weißen Nacht, die niemandem den Schlaf vergönnt; wenn man ihre ernsten Gesichter betrachtet, entschlossene Leidenschaft im Blick, wenn man im Fenster hin und wieder eine schwarzgekleidete Frauengestalt sieht, traurigen Angesichts, wenn man hört, es hätten sich, trotz einmaliger Aufschiebung der Aushebungen, doch wieder kaum 50 Prozent der Gestellungspflichtigen zum Dienst gestellt – dann wird einem schwül und schwer zu Sinn …

Der Finnländer faßt die Zeiten, die er eben durchlebt, als sehr schwere auf und nimmt nicht leichthin Stellung dazu, sondern mit tiefem Ernst. Was dabei besonders auffällt, ist die große Vaterlandsliebe und die Bewunderung für seine heimische Kultur. Wie sollte er auch anders sein? Wie ist alles in Finnland unter den denkbar schwierigsten historischen Umständen geworden, wie mühsam ist jeder Erfolg, jede Frucht den ungünstigsten Verhältnissen abgerungen! Die Felder sind zum großen Teil auf dem Rücken im Sack zum Feldplateau, das Acker werden sollte, hinaufgetragen.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Wieviel Jahrhunderte dauerte es, bis die suchenden Wurzeln der Föhre im Stein den kärglichen Nährboden fanden, bis die knorrigen, sturmgebeugten Bäume heranwuchsen und Wälder sich über das Felsen und Seenland verbreiteten, bis dann Häuser und Boote gebaut wurden und der Fischer zum Ackerbauer wurde.

Der Marktplatz in Wiborg

Nun aber ist Finnland einer der ersten Kulturstaaten, Landwirtschaft und Industrie blühen, wie anderswo kaum, Architektur, Kunst und vor allem das Schulwesen stehen sehr hoch, Finnlands Gesetzgebung ist berühmt, besonders bei den Kriminalisten, seine politischen und anderweitigen Institutionen sind einheitlich und vorzüglich organisiert. staunend steht man da. Ist es nicht wie ein Wunder in der Steinwüste gewachsen, dieses kleine Kulturland ? Ja, man versteht die Liebe und Verehrung des Finnländers für sein Land. Es ist seinen schweren, großen Entwicklungsgang ruhig gegangen, auch unter der Herrschaft des russischen Reiches. Man spürt wahrlich eine echte und große Dankbarkeit loyaler Art noch rings im Land, zugleich aber hallt es wie ein schmerzlicher Seufzer über die lachenden Seen hin durch die finster rauschenden Wälder bis in die verschatteten Tiefen, wo die sagen und Wunder wohnen, und der Schall moosdumpf verhallt . ..

Finnisches Kadettenkorps in Fredrikshamn

Aber ist Finnland nicht wirklich das Land der nordischen Wunder? Da liegt hoch oben im Norden, am Torneafluß, im Gouvernement Uleaborg, ein Fels – „Avasaxa“ von den Alten benannt. Er ist nicht einmal so hoch, bloß 200 und einige Meter über dem Meeresspiegel, aber wenn Mittsommernacht ist, dann versammelt sich viel Volks oben auf seiner Kuppe, um das große Wunder zu schauen, und spielt sonderbare Spiele, die von Urväterzeiten her dort oben gespielt worden, und Gesänge erklingen, worin manch alter Gott noch lebendig ist. Die Sonne aber scheint wahrhaftig still zu stehen. sie geht nicht unter. Wenn sie herabgesunken ist in die blutroten, dunstigen Thäler des Horizonts, dann scheint sie zaudernd zu ruhen, als wäre sie des Wanderns müde, am Rand der kleinen Erde, während Spiel und Gesang laut werden – ein schaudernd Erbeben geht leis durch die weiße Nacht – und mit verjüngtem Leuchten hebt die warme Sonne sich empor zu neuer Allmacht. Und wahrlich ein Gott der kleinen Erde! Und die Wunder der weißen Nacht werden alle Jahre lebendig! Der Finnländer glaubte eher, die Sonne sei einmal in dieser Nacht doch untergegangen, und unser All wäre gestorben, und die Welt wäre Finsternis geworden, als daß er an seiner Welt, an Finnlands Zukunft zweifeln könnte. Trotzig und unbeugsam wie die wetterfeste Fichte und zäh wie deren felsensprengende Wurzeln, hart und gewichtig wie der Granit, vor allem ausdauernd wie seines Ackers magere Krume, aber auch reich in Frucht wie alles schwergewordene ist der Finnländer. Und das finnische Volk ist eine Nation, geprüft, gereift, eine starke, leistungs- und widerstandsfähige Kulturnation. Und wie liebt der Finne sein Land, sein „suomi!“ Diw Liebe ist einzig in ihrer Art – Germanentreue mit der leidenschaftlichen Zähigkeit der Ugrotataren gemischt, wie wir sie an ihren Stammesbrüdern, den Ungarn, bewundern. Und wandern jetzt auch zahlreiche Finnen aus, besonders junge Männer, die nicht russische Soldaten werden wollen, da sie nicht mehr finnische sein können – aus dem Ausland fließen Gelder über Gelder in die finnischen Sparkassen für die zurückgebliebenen Eltern und Geschwister, der Zusammenhang zerreißt nie, und sei er auch noch so lange fern gewesen, es kommt ein Tag, wo der Finnländer das in die Fremde mit genommene Stück Heimat unverkauft und treu geborgen in seinem Herzen nach Hause zurückträgt. Und kehrt er zurück in sein heißgeliebtes „suomi“ so findet er die einst verlassene Heimat als wirkliche Heimat wieder vor. Wie sollte sich viel ändern, wo Felsen stehen? Und – das finnische Volk ist eine Nation und seines Landes Kind, in ihm gewachsen, seiner Art entsprechend geworden und stark geworden, mit ihm Eins. Der Imatra, jene urgewaltige Stromschnelle, deren Wasser in ewiger Unerschöpfbarkeit durch das enge felsige Bett dahinstürmen, braust unverändert in die Tiefe, mit einer wilden Kraft, als gäbe es keine Macht der Erde, die er nicht in Splitter trümmern könnte, so daß man vor ihm in die Knie sinken muß. Das nationale Moment, wo es ungebrochen und stark ist, ist auch Natur, auch eine solche, fest in sich beruhende, unerschütterliche Urkraft. Die alten grauen, wohlgepflegten Festungs- und Olafsburgen aus dem Mittelalter stehen fest am blauen, lachenden Saimasee, zwischen seinen harten, granitenen Ufern, und hinauf in den Norden. Finnland hat nicht nur seine Geschichte, es hat auch Pietät und Tradition. Ist das Mauerwerk auch uralt, es ist nicht verwittert, es liegt nicht in Ruinen. Sage und Geschichte vererbten manch unzerstörbares Bollwerk von Generation zu Generation. Und die finnische Jugend weiß, was stark ist, und was finnisch und dem Finnländer heilig.

Der Saimasee bei Pukaharju

Liegt über dem schroffen Gestein der Skären und der Seeufer, über den weiten Fichtenwäldern, den Mooren und auch über den lieblichen, pappelbestandenen und birkenumgrünten Inseln, wie Punkaharju eine ist, den stillen, friedlichen Waldwiesen, durch die das Elch seinen schmalen Pfad getreten, ein Schimmer von poetischer Schwermut, von Resignation; ist es, als hörte man in dem dumpfen Waldesrauschen einen düsteren Männersang von Enttäuschung und Entbehrung – an Kraft fehlt es nie und nirgends! Und sieht man die festgefügten sauberen Bauernhäuser neben den reichwogenden Kornfeldern, sieht man die schwerbeladenen finnländischen Kauffahrteischiffe ins Ausland dampfen und das bewußte Leben der Städte – dann weiß man, daß die Enttäuschungen zu Siegen geworden und daß Entbehrung und Kampf – reiche Frucht getragen haben. Man lernt es auf einer Wanderung durch den mitternächtigen Kulturstaat begreifen, daß dieses Volkes schweigsame, selbständige und vielgeprüfte Kraft nicht ohne weiteres zu Grunde gehen kann, weil etwas Urgesundes, für alle Seiten Bodenständiges in ihr liegt.

Der Imatra – Die grössten Stromschnellen von Europa

Man befehle doch dem Wildstrom Imatra, sein tausendjähriges Bett zu verlassen und sanft wie ein Wiesenbächlein dahinzuplätschern!

Dieser Artikel von H. Rast erschien zuerst am 19.07.1902 in Die Woche.