Kundensprache

Die Poesie des Wanderlebens ist dahin. Der Handwerksbursche, der, wie es im Lied heißt, nach Handwerksgebrauch wandern mußte, um sich endlich als zünftiger Bandwerksmeister niederlassen zu können, ist von der Landstraße verschwunden, sein fröhlicher Sang ist verstummt, nur noch selten und vereinzelt sieht man den braven Gesellen mit Ränzel und Wanderstab seinen Weg ziehen.

Er ist im Besitz eines regelrechten Wanderbuches, ein väterlicher oder mütterlicher Spargroschen beschwert seine Tasche, und wenn das Geld zu Ende geht, bevor er ihm zusagende Arbeit gefunden hat, so darf er getrost bei einem Meister das Handwerk grüßen und um einen Zehrpfennig für die Weiterreise bitten. Das nannte der Handwerksgesell „Fechten“, und noch in späten Jahren erzählte der zünftige Handwerksmeister, der längst in gutem Brot und in Würden saß, von seinen Fechtkunststückchen; in der Inanspruchnahme seiner Berufsgenossen lag durchaus nichts Entwürdigendes.

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Das ist ganz anders geworden. Die unerbittliche Statistik lehrt uns, daß die Heerstraßen aller zivilisierten Länder heute von einem Heer von Vagabunden bevölkert sind, die, nach Hunderttausenden zählend, ruhelos von einem Ort zum andern wandern, denen das Vagieren Selbstzweck geworden ist und mit der Vagabondage zugleich der systematische und organisierte Bettel. Der staatlichen Aufsicht ist dieser Krebsschaden so wenig verborgen geblieben wie der privaten Abwehr; es haben sich Vereinigungen aller Art gebildet, um einerseits der Ueberhandnahme der Vagabondage zu steuern, und andrerseits jenen Elementen, denen noch zu helfen ist, Rettung, Unterstützung und vor allem Arbeit zu verschaffen.

Hierher gehören die christlichen Herbergen zur Heimat, die Verpflegungsstationen und die Arbeitsnachweise, die in sozialpolitischer Erkenntnis dieses Notstandes gegründet wurden.

Hier giebt es Essen
Im Garten ist ein Hund

Denn an dem Vagabundenwesen trägt der Einzelne keine Schuld, es ist eine Folge der Veränderung unserer Produktion; der Großbetrieb und die allgemeine Einführung der Maschine, die die handwerksmäßige Arbeit ablösten, machen namentlich bei Stockungen des Betriebes und bei Handelskrisen viele Arbeiter überflüssig. die auf die Landstraßen getrieben werden und schließlich in das Vagabundentum versinken.

Es ist ganz natürlich, daß, da das Vagabundentum sich bei uns und auch anderswo gewissermaßen zu einer konstanten Erscheinung entwickelt hat, sich bei diesen Unglücklichen ganz bestimmte Sitten und Gebräuche gebildet haben.

Sie besitzen ihre eigene Sprache, die sich nicht nur in Worten ausdrückt, sondern sie übermitteln auch durch geheimnisvolle Zeichen, die sie dort, wo sie einmal gewesen sind, hinterlassen, ihren „Berufsgenossen“ Nachrichten, die für diese wertvoll und unerläßlich sind. Natürlich sind solche Zeichen nur dem Eingeweihten verständlich; jeder andere Mensch geht achtlos an ihnen vorüber und ahnt nicht, daß irgend ein Kreis, ein Quadrat oder einige Striche, die an einer Mauer, einem Zaun oder einem Haus angebracht sind, eine ganze Geschichte erzählen können.

Hier muss man arbeiten
Drei Frauen im Hause

Das ganze Leben des „Kunden“ dreht sich um den Bettel; sein Fühlen, Denken und Trachten geht nur dahin, wie er sich möglichst mühelos die wenigen Pfennige verschafft, mit deren Hilfe er seine Flasche füllen und in irgendeinem Winkel einer Herberge nächtigen kann, wie er sich die Nahrungsmittel erringt, die er zu seiner notdürftigen Sättigung bedarf. Hat er sich in den Besitz dieser dringlichsten Dinge gesetzt, so blickt er wohlgemut dem kommenden Tag entgegen, um den Kampf ums Dasein von neuem zu beginnen. Es sind der Bedürfnisse nicht viele, die er hat, aber sie nehmen doch seine ganzen Kräfte in Anspruch, und dieses Sinnen und Trachten kommt auch in den geheimnisvollen Zeichen und Inschriften, die wir auf unsern Bildern wiedergeben, ausschließlich zum Ausdruck. Der „Kunde“ ist dabei von einem gewissen Solidaritätsgefühl beseelt; er will dem Schicksalsgenossen der nach ihm dieselbe Straße zieht, seine Erlebnisse und Erfahrungen mitteilen, um diesen vor unnötiger „Arbeit“ oder Schaden zu bewahren so deutet der Menschenfreund, der den Zirkel mit dem Kreuz auf unserm ersten Bild auf die Mauer gemalt hat, an, daß die Leute, die hinter dieser Mauer wohnen, den müden Wanderer mit einem Imbiß unterstützen. Das Viereck auf den Zaunplanken des zweiten Bildes warnt davor, den Zaun zu übersteigen, denn – es ist ein Hund im Garten. Ob das Zeichen auf dem dritten Bild ebenfalls eine Warnung oder eine Ermutigung bedeuten soll, kann nur ein waschechter „Kunde“ wissen, es bedeutet: „Hier giebt es Arbeit.“ Die „Winkelzüge“ auf unserm vierten Bild geben dem Kundigen eine sehr wertvolle Weisung.

Mach, dass Du fortkommst
Hier hat’s keinen Zweck
Der Besitzer lässt die Polizei holen

In unsere Sprache übersetzt, lautet sie: „Erzähle eine rührselige Geschichte, es sind drei Frauen im Haus!“ Da heißt es also lügen – „Kohl machen“, wie der Kunde sagt – erzählen von der großen Arbeitslosigkeit, von gräßlichen Unglücksfällen in der Familie u.s.w. Die Pfeilstriche auf dem fünften Bild geben eine beherzigenswerte Mahnung: „Mach schnell, daß du fortkommst,“ und die Zeichen auf den beiden andern Bildern haben ebenfalls trostlosen Inhalt: „Es hat keinen Zweck“, und „der Besitzer läßt die Polizei holen“.

So sieht man, daß Hieroglyphen und Keilschrift in unserer Zeit noch nicht ausgestorben sind, mit ihrer Entzifferung beschäftigen sich aber weniger Gelehrte als Polizei und Gendarmen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 12.07.1902 in Die Woche.