Was man gesehen haben muß

“Und so ziehn wir und so ziehn wir
Unser Leben, Leben lang
Von dem einen Restaurang
Nach dem andern Restaurang . . .”

Es ist echte, unverfälschte Grunewaldpoesie, die aus dem Lied spricht, das der Berliner Spötterwitz als die Quintessenz Berliner Reiselust und Wißbegierde bezeich et hat. Ob mit Recht? – Nur eingefleischte Lokalpatrioten werden sich dem Zug, nach dem Norden und Süden, nach den Bergen und der See verschließen und vor allem den Stätten historischer Erinnerungen, die vergangene Zeiten in lebensvoller Klarheit vor uns auf erstehen lassen. Gewiß, daß diese Stätten nicht nur von denen aufgesucht werden, die Wissensdrang und ernstes Interesse leitet, sondern auch von jenen andern, die “im Fluge durch die Welt” geeilt sein möchten ohne andere Beweggründe als die, bei kommenden Gelegenheiten zwischen zwei Tassen Tee nachlässig zu erwähnen, daß auch sie dem Sonnenaufgang auf dem Rigi und dem Sonnenuntergang auf dem Posilippo beigewohnt, daß auch sie auf dem Eiffelturm soupiert, auf den Südseeinseln gevespert und gegenüber den Niagarafällen diniert haben – mit einem Wort, daß sie alles gesehen haben, was man “anständigerweise” gesehen haben muß, um “mitreden” zu können.

Das Ziel, zu dem Reisende ihre Schritte hinlenken, richtet sich zumeist nach ihren künstlerischen Interessen, vor allem aber nach der Geschmacksrichtung des einzelnen.

Der Gelehrte wird den Museen und historischen Stätten seine Zeit und seine volle Aufmerksamkeit weihen, der Durchschnittsreisende den Städten und ihrem Treiben, der Naturfreund den Schönheiten besonders bemerkenswerter landschaftlicher Punkte, während empfindsame Menschen, deren Phantasie gern mit auf die Wanderung zu gehen pflegt, Orte zu wählen trachten, aus denen zwischen alten Steinen und zerfallenen Säulen, inmitten wuchernder, wilder Blumen und Gräser, eine schöne Vergangenheit emporsteigt und sich mit Gestalten belebt, die man greifbar zu sehen vermeint, weil man die Stätte betrat, über die sie einst gewandelt. Ein solcher Ort ist Verona, den besonders Hochzeitsreisende deutscher und englischer Provenienz mit Vorliebe aufzusuchen pflegen.

Aber nicht etwa, um die berühmte Maffeische Sammlung zu studieren, die einen Schatz an Basreliefs, Inschriften, Statuen und Gefäßen enthält; auch nicht, um auf dem Corso Vittorio Ennnanuele, einen der breitesten und schönsten von ganz Italien, zu flanieren, sondern vor allem, um an Julias Grab (Abbildung) zu pilgern und dort – einen lebenden Romeo zur Seite – einige Rosen auf den Steinen niederzulegen.

Julias Grab in Verona

Mit andächtigem Schauder betreten sie den Garten des ehemaligen Franziskanerklosters, wo man ihnen, nachdem sie an einer roten Tür geschellt, in einer Art Kapelle einen mittelalterlichen Sarkophag weist, der ihnen gegen bar, als „selpolero di Guiletta“ (das Grabmal Julias) bezeichnet wird. – Hm . . Doch Hochzeitsreisende, die an lebende Romeos glauben, setzen auch keinen Zweifel in tote Julias.

Pietätvoller als unsere italienischen Bundesgenossen, besitzen wir in der historischen Mühle (Abbildung) ein Denkmal des Gerechtigkeitssinnes Königs Friedrich des Großen, an dem wohl niemand achtlos vorüber schreitet, der seine Schritte an der Friedenskirche zu Potsdam vorbei durch das grüne Gittertor in den Park von Sanssouci lenkt. Die Geschichte dieser Mühle, die, westlich von der Orangerie des Schlosses gelegen, dem großen König die Aussicht versperrte und ihn veranlaßt haben soll, ihrem Besitzer mitzuteilen, daß er sie einfach niederreißen ließe, wenn der Müller sich nicht bereit erklären würde, sie ihm gutwillig zu verkaufen diese Geschichte ist bekannt genug, als daß hier noch einmal daran erinnert werden müßte.

Die historische Mühle von Sansouci

Bekannt ist auch im Frankfurter Goethehaus das Goethemuseum, in das die Abbildung einen Einblick gewährt.

Im Goethemuseum in Frankfurt

Historisch, wenn auch nicht in Verbindung mit der Erinnerung an einen Träger der Krone, ist ein originelles Eckchen mitten in frisch pulsierenden Leben von Wien – der “Stock im Eisen” (Abbildung) der sich an der Ecke des Grabens und der Kärtener Straße erhebt. Ueberrascht bleibt der Fremde an diesen Eeisenbeschlagenen, fast formlosen Holzpflock stehen, dem Stamm des einst dort befindlichen Baumes, der der letzte Ausläufer des Wienerwaldes gewesen, der sich einst bis zu jener Stelle hinzog.

Wanderde Schlossergesellen, die die Stadt verließen, hatten nicht verabsäumt, vor ihrem Scheiden, alter Sitte gemäß, einen Nagel in jenen Baumstamm zu schlagen. Nach ihrer Zahl zu urteilen, muß Alt-Wien das Reiseziel aller wandernden Schlossergesellen der Welt gewesen sein.

Der Stock im Eisen (Wien)

Oesterreich, das an Kunstschätzen und landschaftlichen Reizen so reiche Land, beging in diesen Tagen ein Fest, das unsere Aufmerksamkeit auf eine Sehenswürdigkeit Salzburgs lenkt, das Ziel vieler Mozartverehrer. Es ist Mozarts Geburtshaus (Abbildung), dem anläßlich der dort soeben veranstalteten Musikfestspiele das Interesse aller Freunde der unsterblichen Muse des Meisters doppelt gehört. Das alte vierstöckige Gebäude in der Getreidegasse, in dessen Parterreräumen ein dem Zug der Zeit folgender Drogist seine Pyramiden von Lackfarben und Lichten und Anpreisungen von Kognakfabriken wertvoller zu machen glaubte, indem er seinen Laden “Zum Mozart” benannte, beherbergt auch das Mozartarchiv, das sich in diesen Tagen eines lebhafteren Interesses zu erfreuen hatte, als es sonst von reisenden Amerikanern dem Residenzschloß des Großherzogs von Toskana zuteil wurde.

Mozarts Geburtshaus in Salzburg

Auch Schillers Geburtshaus in Marbach (Abbildung), das 1859 einer Renovation unterzogen wurde, enthält nicht nur verschiedene Ausgaben seiner Werke, Lebensbeschreibungen und Gemälde aus allen Phasen seines Lebens, sondern auch verschiedene persönlich interessante Andenken an den Dichterfürsten und seine Familie.

Schillers Geburtszimmer in Marbach

Wohl keiner der Vergnügungsreisenden, die von Rügen aus oder, den kürzeren Seeweg vorziehend, über Warnemünde – Gjedser einen Ausflug nach Dänemark unternahmen, hat es verabsäumt, nachdem er Kopenhagen und seiner schönen Umgebung einen Besuch abgestattet, auch das bei Marienlyst gelegene Schloß Kronborg (Abbildung) aufzusuchen. Zwar ist Kronborg durch Fredensborg, das seit Jahrzehnten als bevorzugter Sommeraufenthalt der dänischen Königsfamilie und ihrer zahlreichen russischen und englischen nahen Verwandten dient, “außer Kurs” gesetzt, aber die Touristen lieben es und verabsäumen nicht, auf die nahe bei Marienlyst befindliche Terrasse zu pilgern, auf der dem Hamlet von Shakespeares Gnaden der Geist seines Vaters erschienen sein soll. Es ist für sie eine schaurig· schöne Empfindung, die durch den Gedanken nicht beeinträchtigt wird, daß Schloß Marienlyst einer Aktiengesellschaft verkauft wurde, die vielleicht dereinst eine erhöhte Kurtaxe für die Verpflichtung in Anschlag bringen wird, ihren Gästen den geharnischten Geist zweimal wöchentlich zu mitternächtiger Stunde vor zuführen.

Schloß Kronborg bei Marienlyst

Von aller Spekulationswut unberührt und voraussichtlich für alle Zeiten unberührt bleibend, wirkt in seinem stillen Zauber das Lutherzimmer auf der Wartburg (Abbildung), das sich unverändert erhalten, wie es einst gewesen, als der große Reformator darin vom Mai 1521 bis März 1522 gehaust und sich dort mit der Uebersetzung des Neuen Testaments befaßte. Anstoßend an dieses Stübchen, dessen von dem Führer versicherten unberührter Zustand so manche der Touristen derart wörtlich nehmen, daß sie nach Tintenflecken Umschau halten, die er etwa bei der Kenntnisnahme der kaiserlichen Achterklärung aus gespritzt haben mochte, liegen die sogenannten Reformationszimmer, drei Räume, die im Jahr 1872 neu instand gesetzt und mit verschiedenen Gemälden von Pawels und Thumann ausgeschmückt wurden.

Das Lutterzimmer auf der Wartburg

Gelegentlich einer Schweizer Reise kann man zwischen Villeneuve und Montreux, am östlichen Ufer des Genfer Sees ein einstiges Staatsgefängnis kennen lernen. Schloß Chillon, dessen Gewölbe in den Felsen unter dem Seespiegel eingehauen sind, beherbergte einst unter anderen angesehenen Gefangenen auch den Genfer Staatsmann Francois von Bonnivard, der dort auf Veranlassung Herzog Philiberts von Savoyen seiner freiheitlichen Bestrebungen wegen interniert wurde. Vier Jahre lang, von 1532 bis 1536, schmachtete er, an einen eisernen Ring gekettet, in einem der unterirdischen Gewölbe (Abbildung), bis endlich ihm und seinen Leidensgenossen durch die Berner, als Befreier Genfs, Rettung und Erlösung wurde. Durch Byrons berühmtes Gedicht: “The Prisoner of Chillon“ ist Bonnivards Name dauernd verherrlicht worden.

Bonnivards Gefängnis in Schloß Chillon am Genfer See

Kein Dulder und kein Kämpfer, nur ein Dichter, dessen Muse noch heute so viele Verehrer zählt, Karl von Holtei, zieht alljährlich eine Schar alter treuer Freunde nach den Stellen, wo Erinnerungen aller Art das Gedenken an den Dichter wacherhalten und wacherhalten werden. Zwar ist mehr als ein halbes Jahrhundert dahingerauscht, seitdem er, der liebenswürdigste und ruheloseste aller Vaganten, die Poesie der Landstraße und das zigeunernde [Dieser Begriff ist beibehalten worden um die Authezität des Textes nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie die Erläuterungen zum Begriff “Zigeuner” vom Zentralrat der Sinti und Roma, die Sie hier finden.] Kunstreitervolk mit seinem Leichtsinn, seinem Glück und seinem Elend geschildert, Im wirksamsten in dem Artistenroman „Die Vagabunden”, aber das Interesse an dieser Kleinvolkromantik ist wachgeblieben und sichert ihrem gemütvollen Schilderer einen dauernden Platz in den Herzen nicht nur jener, deren Stand er mit unerreichter Kunst in dem engen Rahmen eines Buches erschöpfend schilderte.

Es ist eine alte, bekannte Tatsache, daß man in die Ferne schweift, um Eindrücke zu sammeln, während man zuweilen über diesem Bestreben vergißt, daß in unserer unmittelbaren Nähe sich Sehenwertes befindet, zu dem ihrerseits die Fremden pilgern, und das wohl nicht der zehnte Teil der heimischen Bevölkerung gesehn. Zu diesen Dingen gehört das historische Eckfenster in Palais Kaiser Wilhelms I. (Abbildung), das wohl “ganz Berlin” von außen, aber wenige von innen gesehn haben. Durch das sogenannte Fahnenzimmer, das ein Camphausensches Gemälde, “Einzug Kaiser Wilhelms I. in Berlin 1871“, schmückt, gelangt man in das Ministerzimmer, hinter dem sich das mit zahlreichen Erinnerungen angefüllte Arbeitszimmer des Monarchen befand, aus dessen Eckfenster der Kaiser gewöhnlich der vorbeiziehenden Wache zusah. Wohl niemand, der den greisen Fürsten an jenem Platz gesehn, mit seinem gütigen Lächeln die ehrfurchtsvoll herzlichen Grüße der Menge erwidernd, die täglich zur bestimmten Stunde des Augenblicks harrte, da die leicht gebeugte Gestalt des Kaisers sichtbar wurde, wird die Wirkung vergessen, die dieses milde Greisenantlitz auf die Begeisterung der stundenlang geduldig harrenden Massen ausübte.

Das Eckfenster Kaiser Wilhelm I. Unter den Linden

Auch ein historisches Fenster, aber keins von jener harmlosen Art wie das im alten königlichen Palais, ist jenes im Prager Königsschloß (Abbildung), aus dem am 25. Mai 1618 die kaiserlichen Räte Martinitz und Slawata nebst dem Sekretär Fabricius von den Abgeordneten der protestantischen Landstände, unter Anführung des Grafen Thurn, hinausgeworfen wurden. Dieser Fenstersturz, der den Dreißigjährigen Krieg etwas seltsam einleitete, war insofern für die Hinaus beförderten persönlich nicht verhängnisvoll, als sie, trotzdem der Sturz aus einer Höhe von etwa I6 Metern erfolgte, dank dem nur feuchten Schloßgraben keinen nennenswerten leiblichen Schaden davongetragen haben sollen. Woraus man den Schluß ziehen kann, daß bereits vor 286 Jahren auch zu Fall gekommene Politiker weich zu fallen pflegten oder wie Börne es bezeichnete – “auf die Butterseite“.

Das Fenstersturzzimmer im Prager Schloß

In den Geländen des Rheins, – nahe dem Ort Rhense oberhalb Koblenz, erhebt sich eine in der deutschen Kaisergeschichte denkwürdige Stätte; der Königsstuhl (Abbildung). Im 14. Jahrhundert erbaut, um den sieben Kurfürsten zur Beratung deutscher Reichsangelegenheiten, zur Abschließung des Landfriedens – und zur König- und Kaiserwahl zu dienen, wurde der achteckige, sieben Meter lange und von sieben hohen Schwibbögen umgebene Bau, in dem eine Bank die durch Steinplatten bezeichneten Sitze der sieben Kurfürsten enthielt, im Jahre 1794 von den Franzosen zerstört. Sein ungefähr ursprüngliches Aussehen erhielt der Königsstuhl, den wohl kein Rheinreisender unbesucht läßt, erst 1843 durch Wiederaufbau auf Veranlassung einer Vereinigung von Koblenzern, die diese erinnerungsreiche Stätte der Nachwelt erhalten sehn wollten.

Der Königstuhl zu Rhense

In pietätvollster Weise hat dieses Festhalten alter denkwürdiger Erinnerungen auch die böhmische Stadt Eger angestrebt und dadurch dem ruhmreichen Wallenstein ein Denkmal geschaffen, das die trockene, tote Chronik seiner Taten, seines Lebens und seines Sterbens illustriert. Im Stadthause zu Eger, dem früheren Kommandantenhause, in dem er am 25. Februar 1634 meuchlings ermordet wurde, hat man 1872 ein Museum gegründet, das eine reiche Sammlung von persönlichen Erinnerungen an den tapferen Generalissimus und seine Zeit enthält.

Das Zimmer im Stadthaus von Eger, in dem Wallenstein ermordet wurde

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nicht nur in der Geschichte der Völker, sondern auch in der Geschichte der Globetrotter nur ein Schritt. Wie der ernste Reisende nicht nur Museen und historischen Stätten seine Aufmerksamkeit widmet, sondern auch seinen Weg nach dem Münchener Hofbräuhaus lenkt, um dort das Volksleben der bayrischen Hauptstadt an seiner Quelle kennen zu lernen, so wandelt man zum Heidelberger Faß (Abbildung), dem zehn Meter langen und sieben Meter breiten, das 256, 000 Flaschen faßt und das trotz der wunderbaren Universitätsbibliothek, der großartigen Neubauten für medizinische und naturwissenschaftliche Zwecke, des schönen Geisbergs und anderer Sehenswürdigkeiten eine der Hauptattraktionen der “Stadt an Ehren reich” bleibt.

Das große Heidelberger Faß

Einen ähnlichen, wenn auch poetischeren Anziehungspunkt besitzt Hildesheim in seinem tausendjährigen Rosenstock (Abbildung), besonders seitdem die Stadt ihren am Galgenberg aufgefundenen, aus römischem Tafel und Küchengerät von getriebenem Silber aus der Zeit des Augustus stammendem Silberschatz dem Berliner Neuen Museum überwiesen, in dessen Antiquarium er Aufnahme fand.

Der tausenjährige Rosenstock in Hildesheim

Tausendjährige Rosen! Ihr Anblick ist der einzige, der nicht den Gedanken an die Vergänglichkeit alles Irdischen so wehmutsvoll in uns wachruft wie die Stätten historischer Erinnerungen, deren Größe selbst uns heute nichts mehr bedeutet – als nur eine Erinnerung.

Dieser Artikel von J. Lorm erschien zuerst im Jahre 1904 in Die Woche. Die Bilder wurden nachcoloriert.