Im Bann des Fanatismus

Es gehört zu den interessantesten Aufgaben der Völkerpsychologie, zu verfolgen, wie sich bei den Völkern der Bußgedanke entwickelte und welche Formen er bis hinauf zu den hohen Kulturvölkern, zu denen wir selbst gehören, angenommen hat. Verfolgen wir die Entstehung dieses Gedankens rückwärts bis zu den auf tiefster Kulturstufe stehenden Naturvölkern hinab, so läßt sich unschwer erkennen, daß sie im Geisterglauben und Ahnenkultus ihre Wurzel hat.

Der Naturmensch sieht in dem natürlichen Ableben seines Mitmenschen den unheimlichen Einfluß böser Dämonen, die dem Verstorbenen feindlich gesinnt waren und ihm durch Zuführung von verderbenbringender Krankheit den Tod brachten. Verfolgen wir die seelischen Regungen der Naturvölker bei Todesfällen, so ergiebt sich, daß sich bei den einzelnen Völkern für die Ueberlebenden die verschiedenartigsten Sitten und Gebräuche herausgebildet haben; diese letzteren laufen alle darauf hinaus, die Seele des Verstorbenen endgiltig von der Leiche durch besondere Veranstaltungen zu bannen, damit sie Ruhe findet, oder aber sich selbst durch strenge Befolgung bestimmter Vorschriften vor dem Einfluß der bösen Geister zu schirmen. Von ganz besonderer Bedeutung ist hierbei die Thatsache, daß im Glauben des Naturmenschen die Seele des Verstorbenen eine außerordentliche Gewalt über die Lebenden hat. Diese Anschauung geht sogar so weit, daß der Neuholländer sich den Schädel des Verstorbenen vorhält, weil er glaubt, daß er hierdurch in sich den Geist des Verstorbenen wirken läßt. Der in der Einbildungskraft dieser Menschen fortgesetzt bestehende Verkehr mit den Geistern der Verstorbenen zwingt die Ueberlebenden, ganz bestimmte Vorschriften zu erfüllen, um die Seele des Toten zu besänftigen und zur ewigen Ruhe gelangen zu lassen. Hier ist die Wurzel für die Entstehung der Askese zu suchen, d. h. der Enthaltung von Lebensgewohnheiten die bei den einzelnen Völkern ein ganz eigenartiges Gepräge annehmen können. so lange nach der Ansicht der Völker die Seele des Verstorbenen nicht im Jenseits weilt, müssen von den Ueberlebenden Gegenstände, die dem Toten gehörten oder in denen er seinen Aufenthalt nehmen könnte, gemieden werden.

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Aus diesem Grund legen sich die Hinterbliebenen der einzelnen Völker die Enthaltung von bestimmten Genüssen und Lebensgewohnheiten auf. Diese Verhältnisse werden am besten durch die Schilderung der Beobachtungen erläutert, die die Mitglieder der Deutschen Tiefseeexpedition gelegentlich ihres Besuches der Nikobaren bei den Bewohnern dieser Inseln anstellen konnten. Nach der Anschauung dieses Volkes sind es, wie Chun, der Leiter der Expedition, mitteilt, die Geister der Verstorbenen, die „Jwis“, die sich wieder nach einem Körper sehnen und in irgendjemand hineinzufahren versuchen. Um zu verhüten daß sich der Iwi eines Lebenden durch Heimsuchungen und böse Krankheiten bemächtigt, giebt man dem Verstorbenen alles mit ins Grab, was ihm im Leben wert war. Die Hinterbliebenen entsagen aber für längere Zeit alle Freuden und Genüssen, namentlich auch dem Betelkauen, um den Geist zu versöhnen. Um zu verhindern, daß die Iwis in die Hütten hineinfahren, richtet man sogenannte Geisterbäume im Wasser, die als Ablenker dienen sollen. Wenn trotz aller Vorsichtsmaßregeln sich dennoch bei den Hinterbliebenen Unglücksfälle und Krankheiten, namentlich das so sehr gefürchtete Fieber, einstellen, so wird ein mit Gelagen und Opferungen verbundenes Teufelsfest veranstaltet, um den Iwi zu versöhnen.

Schließlich wird von der Bevölkerung ein Geisterschiff hergestellt, dem der Geist, von den Zauberern in einen Korb eingefangen, anvertraut wird, um das Schiff mit dem gefangenen Iwi den Wellen des Ozeans preiszugeben. Aus diesem Beispiel geht zur Genüge hervor, wie tief der Glaube an die Macht der geschiedenen Seelen in der Empfindung der Naturmenschen wurzelt; es ergab sich aber auch daraus die Entstehung asketischer Gebräuche.

Verfolgt man nun von diesem Gesichtpunkt aus in aufsteigender Kulturreihe die diesbezüglichen Gebräuche der einzelnen Völker, so läßt sich unschwer erkennen, daß hierin die Anfänge religiösen Empfindens zu keimen beginnen.

Sie erstrecken sich alle auf Uebersinnliches, das der Wahrnehmungskraft des Menschen spottet. Alle Erscheinungen und Einflüsse, denen der Mensch ratlos und unwissend gegenübersteht, führt er auf das Eingreifen übersinnlicher Machte zurück. Ueberlieferung, Aberglaube und Sage sorgen dafür, daß sich bei den Naturmenschen die Verehrung der Verstorbenen zu einem Ahnenkultus ausgestalten der die Bahn zu höherer und freierer religiöser Entfaltung der Menschheit freigiebt.

Askete indische Fakire – Befestigung eiserner Haken im Rückenfleisch
Askete indische Fakire – Der emporgezogene Fakir

Die aus Furcht entstandenen asketischen Sitten verdichten sich bei den Völkern zu bestimmten religiösen Vorschriften, deren strenge Ausführung den Befolger heiligt und ihn läutert von den Verführungen und Sünden dieser Welt.

Eine ganz besonders starke Ausbildung hat die Askese bei den Mohammedanern angenommen. Die als Derwische oder Fakire bezeichneten Asketiker des Islams fuhren ein meist ganz von der Außenwelt abgeschlossenes Leben, um sich jeglicher Sinnlichkeit zu enthalten und ein gottgefälliges Leben zu führen. Hier bemächtigt sich vielfach der Fanatismus der Gläubigen, die sich die furchtbarsten Entbehrungen, Verstümmelungen und Selbstpeinigungen auferlegen, weil sie glauben, damit ihrem Gott ein wohlgefälliges Werk zu verrichten. In hervorragendem Maß spielt dieser Fanatismus bei den Askenkern Indiens eine Rolle.

Welche wahnsinnige Richtung der Irrglaube der indischen Fakire annehmen kann, führen uns die beistehenden Bilder vor Augen.

Die Abbildung Seite 1746 zeigt einen Fakir, der seinen Körper auf das grausamste zerfleischt, indem er auf einem mit zahlreichen eisernen Stacheln versehenen Lager schläft.

Fakir in Benares, der auf einem Stachelrost schläft

Nicht minder widerwärtig ist das an hohen Festtagen aufgeführte Schauspiel „Tscharah Pudscha“, das uns die beiden andern Bilder zeigen. Dieses besteht darin, daß man durch das Rückenfleisch eines Fakirs an ein Seil befestigte Haken treibt und das Seil an einen langen Querbalken knüpft, der sich im Mittelpunkt um einen hohen Pfahl dreht. Andere Asketiker halten einen oder gar beide Arme ständig hoch, daß diese steif werden, verkümmern und stets so stehen bleiben. solche Unglücklichen müssen von der fanatischen Menge, die diese Fakire bewundert, gefüttert werden. Wieder andere haben sich das Gelübde des ewigen Schweigens auferlegt.

Das Gebaren anderer Fakire ist harmloser. Manche durchziehen als Gaukler oder Schlangenbeschwörer das Land und leisten als solche oft wahrhaft Hervorragendes.

Viele Asketen leben auch einsam, bevorzugen die Nähe von Gräbern und Verbrennungsorten, da sie hier sicherer auf die Mildthätigkeit der Gläubigen rechnen können.

Andere haben sich wieder nach Art der Mönche in Klöstern vereinigt.

Dieser Artikel von Dr. U. Sokolowski erschien zuerst am 13.09.1902 in Die Woche