Magnetische Stürme und Telegraphenstörungen

Beispielbild Telegraf

In den ersten Tagen der verflossenen Woche durcheilte eine Reihe von Nachrichten die Spalten unserer Tageszeitungen und meldete das Auftreten mehrerer rätselhafter Naturerscheinungen. Zunächst bemerkt wurden, und zwar auf weitem Gebiet, Unterbrechungen in der Funktion der Telegraphenanlagen. Solche Meldungen liegen aus England, Deutschland, Oesterreich, Frankreich, Amerika vor, dürften sich aber über noch weit größere Gebiete, aller Wahrscheinlichkeit nach aber über die ganze Erde erstreckt haben.

Bald darauf meldeten die erdmagnetischen Observatorien zu Potsdam und Pola das Bestehen einer großen magnetischen Störung, und nicht lange danach liefen aus günstig gelegenen Orten die ersten Nachrichten über prächtige Nordlichterscheinungen ein. Da nun diese Phänomene für die nächste Zeit sowohl an Häufigkeit wie auch an Intensität zunehmen werden, so sei in folgenden Zeilen in wenigen Worten ihre Natur besprochen. Jedem ist ohne weiteres die Bedeutung des Kompasses bekannt, jenes Wegweisers des Seemanns wie auch des Bergmanns. Wo die Wolken dem ersteren den Anblick des gestirnten Himmels verbieten, wo dem andern es überhaupt unmöglich, tief unter der Erdoberfläche den leitenden Strahl irgendeines Himmelslichts zu erblicken, da führt dies Instrument sie den rechten Weg. Die geheimnisvolle Kraft, die die Nadel zwingt, stets ihren einen Pol nach Norden zu kehren, ist der Erdmagnetismus. Unsere Erde ist eben ein in seinen Dimensionen riesenhafter Magnet. Dies mutet seltsam an, denn auf den ersten Anblick scheint sie doch nur aus Sand und Steinen zu bestehn, die wir für nahezu unmagnetisch zu halten geneigt sind. Allein erstens birgt die Erdrinde nicht nur recht viel magnetisierbare Bestandteile (Eisenerze usw.), und zweitens ist es ja nicht notwendig, sich die Erde als sogenannten permanenten Magneten vorzustellen.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Wir wissen, daß auch eine Spirale, die von einem elektrischen Strom durchflossen wird, nach außen wie ein Magnet wirkt.

Und in der Tat läßt sich an jedem Ort und zu jeder Zeit durch geeignete Beobachtungen feststellen, daß unsere Erde dauernd von elektrischen Strömen umlaufen wird.

Also die Erde ist ein Magnet, der an jedem Ort einen andern, frei aufgehängten Magneten in einer bestimmten Richtung festhält. Aber weder die Richtung noch die Stärke des Erdmagnetismus sind in jedem Augenblick gleiche, es finden vielmehr regelmäßige und unregelmäßige Veränderungen statt, die ganz ähnlich denen der Lufttemperatur, des Luftdrucks und anderer ähnlicher Erscheinungen sind. So finden eine ausgesprochene Tagesschwankung, eine jährliche Variation und höhere Schwankungen statt.

Aber gerade wie im Wetter plötzlich der regelmäßige Gang der meteorologischen Elemente gestört wird und ein Sturm ausbricht, so auch beim Erdmagnetismus die magnetischen Stürme, von denen der vom 31. Oktober bis 2. November beobachtete einer der größten war.

Gleichzeitig mit einem solchen Phänomen sind nun auch die elektrischen Ströme, die die Erde umfließen, aufs heftigste gestört. Und da bekanntlich alle unsere Telegraphenleitungen die Erde als Rückleitung für die Telegraphenströme benutzen, also in leitender Verbindung mit ihr stehen, so treten die Erdstrome in die Telegraphenapparate ein und unterbrechen durch ihre heftigen Schwankungen den regelmäßigen Depeschenwechsel, während der ungestörte Erdstrom nicht bemerkbar wird.

Der schönste Teil der ganzen Erscheinung ist nun zweifelsohne das Polarlicht. Leider hat der in Europa durch Nebel verhüllte Himmel nicht feststellen lassen, ob ein Nordlicht bestand; auch fiel für uns der Hauptteil der Störung leider auf die Tagesstunden, aber günstig gelegene Gebiete, wie namentlich Nordamerika, haben in der Tat das Polarlicht in ganz besonders prächtiger Ausbildung gesehen, so z. B. die Beobachtungsstellen von Neuyork.

Das Polarlicht ist seiner Natur nach eng mit den Strahlen verwandt, die wir in der Croolschen Rohre zu sehen gewohnt sind; es ist ebenfalls ein Kathodenlicht. Leider gebricht es hier an Raum, sein Wesen näher zu erklären, doch bietet uns hoffentlich die Wiederholung der Erscheinung baldigst Gelegenheit, darauf zurückzukommen.

Was sind nun die Ursachen des ganzen Phänomens? Der heutige Stand der Wissenschaft macht für alle diese Erscheinungen die Tätigkeit der Sonne verantwortlich. Auch in unserm Fall war schon seit einigen Tagen ein besonders großer Sonnenfleck zu bemerken. Er ist das Resultat einer großartigen Eruption heißer Gase aus dem Sonneninnern und sendet elektrische Strahlen aus, die sich geradlinig ausbreiten. Sobald nun diese Strahlen die Erde treffen, was stets erst geschehen kann, wenn der Fleck die Mitte der Sonne erreicht, tritt stoßweise die magnetische Störung ein, das Polarlicht entsteht, und die Erdströme geraten in Aufregung. Es ist genau der gleiche Moment für die ganze Erde.

Da, wie gesagt, diese Erscheinungen für die nächsten Jahre mit größerer Häufigkeit zur Beobachtung gelangen werden, wird es dem jetzt dichteren Netz der magnetischen Observatorien durch weiteres planmäßiges Zusammenarbeiten gelingen, die Natur des Phänomens noch tiefer zu ergründen, gehört es doch zu den großartigsten Naturereignissen, die wir kennen, denn die Sonne beeinflußt nicht nur die Erde, sondern auch die übrigen Planeten durch diese eigenartige Telegraphie ohne Draht.

Dieser Artikel von Dr. A. Nippoldt erschien zuerst in Die Woche 45/1903, das Bild ist ein Beispielbild, es gehört nicht zum ursprünglichen Artikel.

Bild von Ray Shrewsberry • auf Pixabay