Im Zwischendeck

Ein Idyll auf Deck

Kaum auf einem andern Gebiet wie auf dem der Verkehrseinrichtungen hat die moderne Technik in ähnlich einschneidender Weise eingegriffen. Was noch vor fünfzig Jahren für ein Wagnis ersten Ranges galt, ist heute eine einfache Spielerei; noch vor wenigen Jahrzehnten wurde der angestaunt, der die Vermessenheit gehabt hatte, über das „große Wasser“ zu gehen und gar zurückzukehren.

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Er mußte dann im Kreis seiner Verwandten und Bekannten erzählen, und wenn seine Berichte auch manchmal nicht ganz der Wirklichkeit entsprachen, so wurden sie doch mit großem Enthusiasmus geglaubt. Früher war es allerdings ein Unternehmen, die Reise nach Amerika zu unternehmen und durchzuführen. Der Segler „Deutschland“, mit dem beispielsweise die Hamburg-Amerikalinie im Jahr 1848 ihren Betrieb eröffnete, machte die Ausreise durchschnittlich in 42, die Rückreise in 30 Tagen, was damals schon für eine ganz anerkennenswerte Leistung gehalten wurde. Der heutige Schnelldampfer „Deutschland“, gegenwärtig da schnellste Schiff der Welt, legt die gleiche Reise schon in 5 Tagen, 7 Stunden und 38 Minuten zurück. – Deutlicher wie in diesen Zahlen sind die Riesenfortschritte, die die modernen Verkehrseinrichtungen gemacht haben, wohl kaum auszudrücken.

Die Kinder werden gebadet
Die Kinder werden gebadet
Kiste über Bord
Kiste über Bord
Ein Idyll auf Deck
Ein Idyll auf Deck

Aber nicht nur die Schnelligkeit in der Bewältigung der Entfernung ist eine ganz andere geworden, sondern auch die Einrichtungen für den Transport der Heere von Europamüden, die im Lauf der Jahrhunderte dem Land der Verheißung zugestrebt sind, wurden grundlegenden Wandlungen unterzogen. Natürlich fährt man auch heutzutage im Zwischendeck eines Auswandererschiffes nicht mit dem gleichen oder ähnlichen Komfort wie in der Salonkajüte eines Schnelldampfers, aber von jenen menschenunwürdigen Zuständen, von denen man früher hörte, ist jetzt glücklicherweise keine Rede mehr.

Die großen Reedereien, die sich bei uns mit dem Auswandererwesen beschäftigen, sorgen schon auf weite Strecken für den Auswanderer. Bereits an der russischen Grenze werden die von Osten kommenden Auswanderer in Empfang genommen und nach gründlicher ärztlicher Untersuchung und Desinfizierung ihrer Kleidungsstücke und Effekten mit besonderen Auswandererzügen bis zum Auswandererbahnhof in Ruhleben bei Berlin befördert. Hier findet eine Untersuchung und Desinfizierung der Neuangekommenen statt, und dann geht’s im Auswandererzug nach Hamburg oder Bremen. Hier fahren die Züge direkt vor die Hallen, wo nochmals eine gründliche Kontrolle vorgenommen wird.

Die Wände und Decken im Zwischendeck der großen Auswandererschiffe sind mit heller Oelfarbe gestrichen, wodurch sie ein freundliches und wohnliches Ansehen erhalten. Von dem System der Hängematten,das früher üblich war, ist man jetzt überall abgekommen, die Auswanderer schlafen in sinnreich konstruierten Betten, die ihnen die größtmögliche Bequemlichkeit bieten. Außerdem erhält jeder Auswanderer ein praktisches Eßgeschirr, in dem er aus der SchiffsKüche reichliche und schmackhafte, flüssige und feste Nahrung bezieht.

Seekrank
Seekrank
Vor der Landung
Vor der Landung

Auf dem freien Zwischendeck können sich die Passagiere nach Belieben herumtummeln und ihren Vergnügungen nachgehen, und viele von ihnen verleben hier auf dem Schiff die ersten wirklich frohen Stunden ihres Lebens. Das Leben und Treiben an Bord eines Auswandererschiffes gehört zu den anziehendsten und interessantesten Schauspielen des Volksgetriebes, das man nur beobachten kann. Wenn die Aengstlichkeit geschwunden ist, die der Anblick des großen Wassers und des ungeheuren Schiffskolosses bei den Menschen hervorzurufen pflegt, die vielleicht niemals über die Gemarkung ihres polnischen oder russischen Dorfes hinausgekommen sind, wenn die Schrecknisse der Seekrankheit überwunden sind, dann beginnt man sich für die Fahrt häuslich einzurichten, die Lebenslust, die ein wenn auch nur für einige Tage sorgenfreies Dasein hervorruft, bricht durch, und man widmet sich den Geschäften des Tages. In erster Linie gehört hierzu die Stillung des auf See immer regen Appetits. Das verzinkte Eßgeschirr, in dem sich jeder sein Essen holt, wird hervorgesucht. Das Geschirr besteht aus einem Topf mit Henkel für Suppe, Fleisch und Kartoffeln, einem darauf passenden Napf für Gemüse oder Kompott. Außerdem erhält jeder einen Trinkbecher. Nach dem Essen entsteht natürlich ein großes Gedränge um die Wasserleitungen, weil jeder seine Utensilien zuerst reinigen will, damit er sich dann auch zuerst dem Ruhebedürfnis hingeben kann. Denn Essen und Schlafen sind die Hauptbeschäftigungen an Bord.

Man mag sagen, was man will – aber jede längere Seereise wirkt auf die Dauer unendlich eintönig und einschläfernd. Die Reize des Meeres sind unbeschreiblich, doch in gewisser Zeit ermüden sie auch den Gebildeten und den Schwärmer – Ungebildete sind bereits nach wenigen Tagen übersättigt. Ein Hut, der über Bord geht, interessiert sie mehr als eine seltsame Naturerscheinung; wird eine unbrauchbare Kiste über Bord geworfen, so folgt man ihr mit den Augen, so lange es möglich ist. In den Abendstunden aber wird alles lebendig; hier ein Flötenspieler, der zu einem heimatlichen Gesang aufspielt, oder ein anderer, der die Ziehharmonika mehr oder weniger meisterlich zu handhaben versteht – läßt die Witterung es zu, wird sogar ein Tänzchen riskiert.

Sorgsame Mutterliebe waltet überall. Wenn die Sonne ihre milden und warmen Strahlen niedersendet, dann ist es für die vielen Mütter, die mit ihren kleinen und kleinsten Sprößlingen eine neue Heimat suchen, Zeit, eine große Reinigung der Wäsche ihrer Lieblinge und dieser selbst vorzunehmen. Die Wäsche wird an der Reling zum Trocknen aufgehängt, die zukünftigen amerikanischen Bürger aber wandern in große Badewannen, in denen sie gehörig mit Seife abgewaschen und dann mit Süßwasser, das freigebig zur Verfügung gestellt wird, abgespült werden.

Im Scherz und Spiel gehen die Tage, die der Zwischendeckspassagier an Bord des Auswandererschiffs zuzubringen hat, dahin. Die Sorge für das leibliche Wohl hat die betreffende Gesellschaft übernommen, und wenn diese wichtigste Frage gelöst ist, dann zieht auch Zufriedenheit in das Herz der Auswanderer ein. Aber – ach, wie bald – ist das Ziel erreicht, und dann treten die harten, unbarmherzigen Sorgen an den Europamüden heran. Ein „Zurück“ gibt es für die weitaus meisten nicht, Millionen von glühenden Hoffnungen und Wünschen sind schon gescheitert und zerschellt: auch der, der rüstigen Fäusten und zäher Energie sein Glück zu verdanken hatte, denkt wohl später noch immer mit Wehmut an das alte Vaterland zurück.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 42/1903, er war gekennzeichnet mit „R. C.“.