Sylter Sommertage

Die größte der nordfriesischen Inseln im schleswigschen Wattenmeer, das altfriesische Silendi Seeland, jetzt Sylt, sieht von Jahr zu Jahr ein festes, stets wiederkehrendes Stammpublikum auf seinem Boden.

Nicht der Luxus moderner Modebäder, nicht übermäßige Eleganz und jeglicher mühsam der Hauptstadt entnommene Komfort ziehen diese Getreuen von Sylt in jedem neuen Sommer an den Sturm. und wogenreichen Strand. Nein, im Gegenteil, man hat sich mit Fleiß und Erfolg bemüht, jenes dem wirklich Erholungsbedürftigen unerträgliche Uebermaß von Kulturwohlthaten und Raffinementsfortschritten diesem ungefesselten, echtesten Nordseebad künstlich vorzuenthalten. Das wilde Meer dort oben will nicht übertriebenen Genuß, sondern freies Genießen, nicht milde Fortsetzung des Großstadtlebens, sondern frischen, fröhlichen Kampf mit Wind und Wetter, nicht parfümierte, wohlanständig frisierte See sondern Sturm und Wellen seinem Freund und Gönner geben.

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„Darum kommen nach Sylt nicht die Modelustigen und die Internationalen. Ein treuer, naturfreudiger Stamm von Badegästen, ein paar Tausend wetterfester Menschen kehren jeden Sommer wieder und suchen und finden dort neue Kraft. Auch in diesem bösen Sommer unseres mißvergnügens bauen in Westerland und Wennigstedt die Unermüdlichen ihre kühnen Strandburgen und trotzen allem Wasserüberfluß und Segen von oben. Denn auch im Nebel, in den wasserschweren Dünsten und Schwaden, bei grauem, dumpfrollendem Meer mit den weißen, sich überschlagenden Schaumkronen ist Sylt schön und genußreich.

Der gemeinsame Familienbadestrand, den die Badeverwaltung als eine der ersten in Deutschland der zusammengehörigen Familie eingeräumt hat, giebt Eltern und Kindern neue Freuden und ungeahntes Behagen. Der stetig, unaufhaltsam fallende Regen hält die Familienmitglieder so wie so schon eng zusammen, man drängt sich in die kleinen Stuben und bei nur einigermaßen erträglichem Wetter in die Strandkörbe, man braut sich Grogs, trinkt gemeinsam eine mächtige „Sylter Welle“, ein steifes Gemisch von Punsch, Rotwein, Zitrone und Zucker, oder spielt einen soliden Skat, wie ihn unser Bild aus dem Sylter Atelier des Westerländer Malers Horwan lebendig vorführt.

Da sitzen berühmte Größen der Berliner Musikwelt, der Hofcellist Grünfeld, der Kammervirtuose Professor Zajic, der Kammersänger der Wiener Hofoper Demuth, mit dem Inhaber der gemütlichen Stube fröhlich beisammen – bei Karten, Tobak und einem guten Trunk.

Ein gemüthlicher Skat im Künstleratelier

Und wenn man nicht derart genießt oder nicht badet oder nicht schläft, dann kann man auf dieser schönen Insel eine der interessantesten ethnographischen Studien machen, die uns Deutschland überhaupt noch bietet. Es geht auf dem Sylt der heutigen Tage ein starker Zug des Interesses von Westen, von Wennigstadt und Westerland, nach Osten, nach den uralten Dörfern Keitum und Morsum.

Die Kultur hat zwar auch hier, wie allerorten, die schöne Sylter Tracht, die eigenartige Sylter Bauart der Häuser, den ständigen Gebrauch der Sylter Sprache stark in den Hintergrund gedrängt, aber doch kann man in diesen Dörfern all dies in seinen Urbestandteilen noch finden, der Sylter hat hier seine alten Trachten noch, er spricht noch seine alte, friesische Sprache.

Und es ist ein zweifellos großes Verdienst von Sprach- und Volkswissenschaft, wenn diese alten, echten Bestandteile durch Studien und Niederschrift, durch künstlerische Bearbeitung und Darstellung der Vergessenheit und Verkümmerung entrissen und erhalten werden. Die Sylter Sprache (jü Sölring sprok), die sich natürlich am reinsten in den vom Fremdenverkehr abgelegensten Orten, in Keitum, Archsum und Morsum, bewahrt hat und die noch heute von ungefähr 3000 Einwohnern der Insel gesprochen wird, giebt ein typisches Bild der Friesen, einem harten, energischen Geschlecht, voll Eigenart und Widerspruch, aber fest in sich selbst und – wie der Sylter Wahrspruch lautet – lieber tot als Sklav!

Ein Sylter Zimmermann aus Keitum, ein armer, schwer arbeitender Mensch, Jark Johannsen, hat durch seine Lust, zu fabulieren, durch prächtige Sylter Schauspiele die allgemeine Aufmerksamkeit der Kenner auf Ursprache und Sitte dieser alten Friesen gelenkt. Er dichtet in seiner freien Zeit nach des Tages Arbeit, er ist Regisseur seiner Stücke und Hauptdarsteller, er führt die langen, stillen Winterabende über seine Schwänke und Lustspiele im Verein mit jungen Syltern auf und findet bei den Zuschauern lebhaften Beifall und stets sich steigernde Anerkennung seines Schaffens.

Bis vor kurzem waren diese Schauspiele nicht gedruckt, aber doch allenthalben bekannt, sie gingen beinah homerisch von Mund zu Mund, und Johannsens Lieder wurden überall gesungen. Der Greifswalder Universitätsprosessor Dr. Theodor Siebs hat zwei Stücke Johannsens niedergeschrieben, mit Uebersetzung, Erläuterungen und Wörterbuch versehn und unter dem Titel: „Sylter Lustspiele“, den „Freier von Morsum“ und die „Liebeswerbung auf Sylt“ herausgegeben. Die Liebeswerbung ist ein gereimtes Sylter Liederspiel in einem Aufzug; schon das Personenverzeichnis schafft eine gute Laune:

Anne Marie, ein junges Blut –
Sylter schlag, voll Uebermut.
Friedrich (Seemann), eifersüchtig,
Liebt sie sehr, ist brav und tüchtig.
Sören (Burknecht), ist ein Mann,
Der nur halbwegs Syltersch kann.
Mett, Sörens Schwester, wohnt ganz nah,
Führt ihre kleine Wirtschaft da.

Das ist eine ursprüngliche, köstliche Naivität, die an Hans Sachs erinnert. Der Inhalt des Stückes ist dem Personenverzeichnis entsprechend.

„Der Freier von Morsum“ (Di Frier fan Moasum, Eu klöchtich karakterskelt me sjungen ön gen aptoch), ein lustiges Charakterbild mit Gesang in einem Aufzug, zeigt den Kampf eines lustigen, übermütigen Liebespaares mit einem unerwünschten Freier, der nach der Personalcharakteristik „ein einfältiges, dummes, gutes Menschenkind aus Morsum“ ist.

Das Stück beginnt mit einem einfachen Duett, das die Liebenden nach einer alten Sylter Tanzweise singen:

Er:
Sehnend vom Nachbarhaus
Blick ich nach dir stets aus;
Weiß doch ganz Sylt genau,
Wonach ich schau.

Sie:
Wir werden Mann und Frau,
Vater ist doch nicht so schlau;
Mag er auch drohn und schrein,
Wir sagen nein!

Beide:
‘s ist ja doch nicht meine schuld,
Glaub mir’s und hab Geduld!
Herzinnig lieb ich dich
So wie du mich.

Die zwei Proben geben ein eindrucksvolles Beispiel von der schlichten, wahrhaften Volkspoesie, die hier in der Abgeschlossenheit der Insel, auf dem Boden eines reinen Volkscharakters und eines unvermischten Sprachstamms blüht.

Dieser Artikel von Fritz Hallberg erschien zuerst am 16.08.1902 in Die Woche.