Venezuela ist ein zugleich beneidenswertes und beklagenswertes Land. Von der Natur mit Schätzen bedacht, könnte es sich dauernd in herrlichstem Wohlstand befinden, wenn es nicht an der leidigen Erbschaft aller spanisch-amerikanischen Republiken zu schwer zu tragen hätte, an dem ewigen inneren Krieg.
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Der jetzige Präsident Castro hat sich anfangs allerdings nicht nur große Mühe gegeben, im Innern Ruhe und Frieden aufrechtzuerhalten, er zeigte sich auch bemüht, seinen Verpflichtungen gegenüber dem Ausland nachzukommen. Indessen er vermochte nicht auf dem zunächst beschrittenen Weg dauernd vorwärtszugehen: Venezuela hat längst wieder aufgehört, seine Schulden an europäische Gläubiger zu zahlen. Um es an seine Pflicht zu mahnen, haben sich Deutschland und England zu gemeinsamen, energischen Maßregeln entschlossen. Es wurden Kriegsschiffe entsandt, die sich nicht auf eine äußere Demonstration beschränkten, sondern ein paar venezolanische Schiffe in den Grund bohrten. Präsident Castro antwortete darauf mit der Verhaftung von Engländern und Deutschen in Caracas und mit einem Aufruf an die Venezolaner, in dem er die europäischen Mächte völkerrechtswidrigen Verhaltens zieh. Die Sicherheit der Deutschen war ernstlich bedroht; unser Geschäftsträger v. Pilgrim-Baltazzi mußte Caracas verlassen. Einstweilen hat der dortige amerikanische Gesandte Herbert W. Bowen den Schutz unserer Landsleute übernommen, und die dauernde Anwesenheit unseres Geschwaders, das unter dem Befehl des Kommodore Kapitän zur See Georg Scheder stebt, wird hoffentlich Herrn Castro recht bald zur Besinnung bringen.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 50/1902.