Am belgischen Strand

Der belgische Badestrand ist berühmt, darüber ist weiter kein Wort zu verlieren. Er ist eigenartig, insofern zunächst, als er nur Düne, sandige Düne mit allerspärlichster Vegetation zeigt. Was den heimischen Ostseestrand und die Ostseeinseln auszeichnet, Düne mit Wald, bewaldete Klippen, das fehlt ihm leider. Alle Vorzüge findet man eben selten vereint. Diese Verschiedenheit der natürlichen Vorbedingungen erzeugte denn auch bald eine völlige Abweichung in der Art des Badelebens, in der Art der Anlage der Badeorte.

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An der Ostsee schmiegen sich letztere mit ihren Häusern kokett den Wellenlinien der Anhöhen und Waldpartien an, am belgischen Strand steht die vorderste, die fürstliche Reihe der Strandvillen stramm in Reih und Glied; erst rückwärts streben Straßen und Gäßchen willkürlich in die Tiefe, aber immer mit dem Charakter der Stadt, mit einem Zug des Ewigen, Festgefügten. Dann auch waltete ein Gesetz des Schönen, Aesthetischen über den Badeorten selbst, wie über der Erbauung dieser eleganten Villen und Paläste. Jede Einförmigkeit, jeder disziplinierte Stil ist verbannt. Der Architekt ließ angesichts der Launen des erhabenen Nordmeeres seinen eigenen schöpferischen Einfällen den weitesten Spielraum. Unter dem Eindruck der gewaltigen ozeanischen Natur fielen die Fesseln der akademischen Konvemnenz von ihm ab, und er schenkte den Neptunstöchtern den Ausblick auf steinerne Paläste mit Türmen, Balkonen, Erkern, Wölbungen und Friesen, deren Urgedanken und Urbilder sich weder im Land der Sohne Muhammeds, noch bei den Belgiern selbst, bei den Enkeln Van Eycks, vor finden. Ostende und Blankenberghe machten mit dieser fürstlichen Architektur, würdig, in den Hauptstädten der Nationen zu prangen, den Anfang. Und nun ahmen ihnen die kleineren Orte des Perlenkranzes der belgischen Strandorte aus Kräften nach. Backsteingebilde, mächtig und gedrungen allerorten, sobald man über die dürren Dünen zur Küste herniedersteigt. Ich glaube, die einzige Ausnahme macht noch das schnell aufkommende Le Coq, das, wahrscheinlich infolge seiner Lage in den Dünen selbst, den Cottage und Chaletstil glücklich erwischt hat und wohl beibehalten wird. La Panne, dieses einstige Eldorado der Künstler an der französischen Grenze, wird mehr und mehr Stadt. Knocke, der letzte Badeflecken an der holländischen Grenze, mit der Aussicht auf Walcheren, wird bald die Idylle abgestreift haben; er kann dem steinernen Zwang, eine Badestadt zu werden, nicht entgehen. Noch wehrt die Anwesenheit der großen belgischen Künstler, das Andenken an den unsterblichen Tiermaler Verwée, der Knocke in die Mode brachte, dem Unwesen der Spekulanten. Ein, zwei gute Saisons jedoch, und Knocke kapituliert ebenso, wie es die jüngeren Bruder Heyst, Wenduyne, Westende, Coryde, die Maria·, Middel-, Oostduinkerkes, La Panne und Nieuport gethan haben. Und merkwürdigerweise nicht zu ihrem Schaden, denn auch diese Eigenart des belgischen Strandes, daß man von einem Land- und Badeleben. wie es uns Binnenländern von der Ostsee und unserer Nordsee her bekannt ist, dort gar nicht reden kann, findet ihre Liebhaber.

Der Kursaal in Ostende

Viele lieben diese städtische Villegiatur auch deshalb, weil kein Zwang zu Ausflügen, wenigstens kein dringender Zwang vorliegt. Man lebt nur seinem Behagen, seiner Ruhe, man wird zum Schema. Kein noch so holder, frischer Morgen vermag die Gäste der belgischen Badeorte aus ihren Betten, keine noch so zauberhaft glänzende Mondnacht später als sonst in diese zu treiben. Von elf bis zwölf Uhr wird gebadet, wobei man sich auch auf der Digue begrüßen und etwas plaudern darf; es ist das das „petit lever“. Nachmittags von fünf bis sieben ist die Promenade auf der Digue – bei uns hieße das „am Strande“ – „de rigueur“. Toilettenzwang. Dann das Diner daheim oder hinter den Glaswänden der Hotels „à la mode“.

Die Estakade in Ostende

Konzert im Kursaal, und man rauscht oder wandelt nach Hause. Schwärmen, Bummeln, diese entzückende, lebenslustige Poesie unserer Badeorte, wer kennt sie hier? Man schont und erholt, man langweilt sich vielleicht noch dazu; aber das ist es eben, was so gut bekommt. Ausflüge? Die Fremden müssen notgedrungen auf der Heimreise durch die Städte, die die Perlen der flandrischen Schätze enthalten. Brügge, Gent, Antwerpen, Brüssel, Ypern – wer würde sie nicht besuchen? Auch wagt man wohl einen Abstecher nach Holland und Frankreich hinüber, weil das „Jenseits der Grenze“ stets einen gewissen Reiz behält. Aber man reist selten.

Der Ostender Strand, vom Kursaal aus gesehen

Lustig geht es dagegen auf den Uferbahnen und elektrischen Trams zu, die zwischen den einzelnen Orten verkehren. Das ist bequem und unterhaltsam, gar nicht anstrengend. Man macht sich auf diese Weise Kaffeevisiten, besser gesagt Aperitivvisiten, denn Belgier und Franzosen nehmen den Kaffee unmittelbar nach dem Essen. Die Deutschen namentlich sind daher das Glück der Konditoren in Blankenberghe und Heyst um die vierte und fünfte Nachmittagstunde. Frau Nachbarin, noch ein Täßchen?

Burgbauen am Strand
Die Rue de l’Eglise in Blankenberghe
Fischerbarke von Blankenberghe

Ich komme aber nochmals auf die Eigenarten des belgischen Badestrandes zurück. Ich habe sie im geographischen und architektonischen Sinn und auch im geselligen erklärt. Es fehlt nur noch die Auslegung der gesellschaftlichen Eigenart dieser Orte. Ich glaube fast, daß sie es in erster Reihe ist, die die Leute aus dem deutschen Hinterland so gern und immer mehr an den belgischen Strand zieht, selbst dann noch, und dann vielleicht noch mehr wie je, wenn in Ostende die Kugel des Roulette nicht mehr rollen wird. In den belgischen Bädern weht die Freiheit. Bitte, Freiheit und nicht Unanständigkeit, sagte ich.

Villen an der Digue von Blankenberghe

Hier lebt jeder nach seinen Launen und giebt aus, was und wie er will. Man lebt und läßt leben, man bewundert, aber man beneidet nicht. Und dahinein rauscht und braust das Meer, das ja wohl oder übel mit von der Partie sein muß. Glückliche Kinder traben auf geduldigen Eseln vorüber oder patschen mit aufgerollten Höschen, Buben und Mädel, durch die Lachen, die die Ebbe auf dem Meeresboden gelassen hat, um Krabben und sonstige Schaltiere zu fangen.

Strand und Düne von Wenduyne

Die Digue, die Strandpromenade, monumental mit ihren glänzenden Fliesen, dieser unbeschreibliche Salon kosmopolitischer Eleganz und des Luxus, diese Digue, die über dem eigentlichen Strand in der Sonne flimmert und gleißt, sie, mehr oder weniger prächtig, ist der Stern der Schönheit, der traumhafte Zauber, der die belgischen Badeorte umkreist und in ihrer Art einzig dastehen läßt.

Wen könnte die Ungebundenheit des Badelebens hier wohl verletzen, wer nur daran denken, das flüchtige Glück dieser Stunde durch Gesetze und Bedenken beschränken zu wollen? Der Freiheit keine Badeschranken. Verrauscht die Stunde, wo jede Etikette fällt, verrauscht so schnell, wie der Gischt der Wogen so kehrt die Form und höfische Lebensart zurück unter die Gesellschaft, die des Vormittags noch gemeinsam schäkerte und tobte, die aber des Nachmittags kalt und förmlich im starren Panzer der Konvenienz und der gegenseitigen Duldung aneinander vorüberrauscht, als hätte nie die böse Welle ein kapriziöses Spiel mit ihr getrieben.

Aus dem Wasser, aus dem Sinn, könnte man hier sagen. Und so muß man dem belgischen Badeleben das Lob des Eigenartigen, Reizvollen, Pikanten singen. Es öffnet sich allen Börsen. Selbst unter den Orten des belgischen Strandes waltet ja eine gewisse Hierarchie. Beugen sich auch die übrigen Orte vor Ostende wie vor einer Königin, und vor Blankenberghe wie vor deren Oberhofmarschall – in ihrem organischen Wesen, in ihrem Leben und Streben gleichen sie sich alle. Derselbe Wind der Freiheit, der gesunden Ungezwungenheit weht über sie dahin, und über ihnen allen funkeln die alten Sterne ungeschmälerter Daseinsfreude. Wer von den belgischen Badeplätzen heimkehrt zu den eigenen Penaten, nimmt ein Teilchen jenes Blutes wunderbarer, lebenskräftiger Urwüchsigkeit mit, die im Boden Flanderns weht und sich regen wird, so lange das Meer an seinen Dünen schäumt.

Dieser Artikel von Alfred Ruhemann erschien zuerst am 16.08.1902 in Die Woche.