Vom tripolitanischen Kriegsschauplatz – Der heilige Krieg

Vom tripolitanischen Kriegsschauplatz. - Der Vormarsch der italienischen Expeditionstruppen in Tripolis

Wochenkalender

Montag, 23. Oktober
Die Italiener haben bei ihrem Vorgehen in Tripolis größere Verluste.

Mittwoch, 25. Oktober
Die Italiener in Tripolis erkennen die Araber nicht als kriegführend an; Hunderte wurden verhaftet, zahlreiche erschossen.

Dies sind Auszüge aus dem Wochenkalender der Reclams Universum Weltrundschau vom 23.-28.10.1911.

Der heilige Krieg.

Von Dr. Hugo Grothe.
In den Berichten über die durch die Italiener erfolgte Beschießung von Benghasi und Dernah war zu lesen, daß auf einer Reihe von Gebäuden grüne Fahnen als Zeichen des „heiligen Krieges“ flatterten. Ferner wurde mehrfach gemeldet, daß der Scheich des religiösen Ordens der Senussi den Italienern den „heiligen Krieg“ erklärt habe und daß, seinem Rufe folgend, Tausende von berberischen und arabischen Kriegern sich im Hinterlande Tripolitaniens sammeln, um sich mit den 60 bis 80 km von der Küste im tripolitanischen Randgebirge stehenden türkischen Truppen zu vereinigen und dann gemeinsam gegen den verhaßten christlichen Eindringling mit bewaffneter Hand vorzugehen. Diese Nachrichten lassen es angezeigt erscheinen, über den Begriff und die Natur des sogenannten „heiligen Krieges“ einige Ausschlüsse zu geben und zu untersuchen, welche Waffe die islamische Welt mit diesem religiösen Kriegsruf besitzt und in welchem Maße sie den Italienern und den christlichen Nationen gefährlich werden könnte.

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Krieg gegen die Ungläubigen, Krieg gegen Abgötterei, das sind die Gebote und Losungsworte, die der Prophet, als von Allah ihm in den Mund gelegt, an zahlreichen Stellen des Korans predigt. Vermögen und Leben sind für diesen heiligen Zweck die Opfer, die Allah vom Gläubigen erheischt. Glück und Wohlleben im Jenseits wird die Belohnung für solche Hingebung sein. „Gott wird solche Gläubige in Gärten führen, welche Wasserströme durchfließen,“ wie es in der 47. Sure heißt, die „Der Krieg“ überschrieben ist. Auch die Sunna enthält mehrere Aussprüche des Propheten, die den Streit für den Glauben preisen. So tröstet er die Hinterbliebenen eines in der Schlacht bei Bedr Gefallenen mit den Worten: „Wer im „heiligen Krieg fällt, der stirbt sündlos. Seine Wunden erstrahlen am Tage des Gerichtes in heiligem Glanze und duften lieblich wie Ambra; er geht unmittelbar in den siebenten Himmel ein, zu den höchsten Seligkeiten des Paradieses.“

Der Abschied
Der Abschied. In Neapel spielen sich in diesen Tagen, da die itallenischen Truppen, einer ungewissen Zukunft entgegen, nach Tripolis befördert werben, ergreifende Abschiedszenen ab; unsere Momentaufnahme zeigt eine Ialienerin, die vielleicht auf Nimmerwiedersehen Abschied nimmt von dem, dem ihr Herz gehört. Phot. Abenlacar, Neapel.

Kampf mit bewaffneter Hand, geistige Macht, mit der Schneide des Schwertes verfochten und zum Siege geführt, gab der Religion des Propheten ihre Kraft, und der so gegen die Ungläubigen im Koran befohlene Krieg verlieh der neuen Religion ihre Erfolge und ihre Ausbreitung. „Seid nicht milde gegen eure Feinde, und ladet sie nicht zum Frieden ein, solange ihr die Mächtigeren seid; denn Gott ist mit euch, und er entzieht euch nicht den Lohn eures Tuns,“ heißt es in der genannten Sure. In etwas milderer Form erscheint die Pflicht und die Natur des „heiligen Krieges“ in einer anderen Sure des Korans. Die betreffende Stelle lautet: „Streitet für die wahre Religion wider die, die gegen euch zu den Waffen greifen. Begeht aber die Sünde nicht, daß ihr sie zuerst angreift; denn Gott liebt die Sünde nicht. Erwartet vielmehr ihre Mordgier. Aber wo ihr sie dann findet, da tötet sie; denn die Gefahr, zur Abgötterei gezwungen zu werden, ist schrecklicher als das Morden im Glaubenskriege. Kämpft gegen sie so lange, bis keine Gefahr zur Abgötterei mehr sein wird und die wahre Religion wieder herrscht.“

Die Suggestion, einen von Gott befohlenen und beschützten Kampf zu führen, hat durch Jahrhunderte die Fechter des Islams zu todesmutigem Vorgehen gespornt und dazu geführt, daß die Streiter des Propheten Spanien überschwemmten und bis zu den Toren von Wien gedrungen sind. Als „Djihad“ – so wird der heilige, aus religiösen Gründen unternommene Kampf genannt, im Gegensatz zum „Charb“, dem politischen Kampf zwischen Rivalen und zwischen Rechtgläubigen – haben alle großen türkischen Sultane ihre oft siegreichen Heere nach der Balkanhalbinsel, nach Ungarn, nach Kleinasien geführt.

Vom tripolitanischen Kriegsschauplatz. - Der Vormarsch der italienischen Expeditionstruppen in Tripolis
Vom tripolitanischen Kriegsschauplatz. – Der Vormarsch der italienischen Expeditionstruppen in Tripolis. Sonderaufnahme von Central News, übermittelt von Tripols durch Extradienst der Warwick Tading Co.

Wer den „heiligen Krieg“ auszurufen berechtigt ist, darüber fehlen im Koran die nötigen Bestimmungen. Auch die Koranausleger sind sich nicht darüber einig, wem das Recht zur Proklamierung des Djihad zufällt, um für alle Gläubigen rechtsverbindliche Wirkungen zu haben, sämtliche Mohammedaner der Welt also zu der Verpflichtung zu führen, persönlich ins Feld zu ziehen oder doch aus ihrem Vermögen zu den Kriegskosten beizusteuern. Gewöhnlich sind es die Sultane gewesen, die als Kalifen, also als Nachfolger des Propheten, den Aufruf zum heiligen Kampf ergehen ließen. Aber auch dem Scheich ul Islam, nächst dem Kalifen das Oberhaupt in Glaubenssachen, wird diese Berechtigung zugeschrieben, und selbst die Oberhäupter großer angesehener religiöser Ordensgemeinschaften und die religiösen Führer von Sekten und von neuen islamischen Glaubenslehren, die sich als „gereinigte Religionen“ bezeichneten, haben nach dem Vorbilde Mohammeds einen „heiligen Krieg“ zu entfachen und zu befehlen sich für befugt gehalten.

Ein Zeichen pflegte die Ausrufung des „heiligen Krieges“ zu versinnlichen, nämlich die Aufpflanzung des „Sandjal-i-cherif, der Fahne des Propheten. Dieses Kleinod, das der Sage nach der Prophet selbst im Kampfe getragen hat, wurde in einer Moschee in Kairo aufbewahrt und kam mit der Eroberung Äghpiens durch Sultan Selim I. im Jahre 1517 nach Konstantinopel, wo es in der Hagia Sophia geborgen wurde. Freilich nicht das verehrte Kleinod selbst pflegte man meist dem Volke als Kennzeichen des Beginns eines „heiligen Krieges“ zu zeigen, sondern eine Nachbildung dieser Fahne, die über dem Halbmond der Kuppel der Hagia Sophia befestigt wurde. Solange die Sultane in eigener Person in den Kampf zogen – Sultan Suleiman der Große rückte 13mal persönlich an der Spitze seines Heeres ins Feld – und nicht, wie später, sich durch ihre Wesire vertreten ließen, fand in Ejub, der am oberen Teil des Goldenen Horns malerisch zwischen Gärten und Zypressenhainen gelegenen Vorstadt Konstantinopels, wo Abu Ejub Anfári Ahálid ben Seid, der bei der ersten Belagerung Konstantinopels im Jahre 672 angeblich gefallene Fahnenträger und Waffengefährte des Propheten Mohammed, begraben sein soll, eine Zeremonie bei Beginn eines „heiligen Krieges“ statt.

Bis heute haben die türkischen religiösen Machthaber in Konstantinopel den „heiligen Krieg“ gegen die Italiener nicht verkündet. Wohl aber scheint dies der gegenwärtige Ordensmeister der Senussi getan zu haben. Dieser Orden spielt seit sechs Jahrzehnten im religiösen Leben Nord- und Zentralafrikas eine hervorragende Rolle. Ihr Stifter war der im Jahre 1791 oder 1792 geborene algerische Scheich Sidi Mohammed Ben Ali-es-Senussi. Auf tripolitanischem Boden, in unmittelbarer Nähe der Stadt Benghasi, war es, wo diese geistig hervorragende Persönlichkeit eine „Sauya“, ein islamisches Mönchskloster, gründete und die Rückkehr zum alten unverfälschten, durch keinen von Deutern der Lehre des Propheten getrübten Islam predigte. Seine glühende Beredsamkeit und seine fanatische Begeisterung schufen ihm bald Tausende von Anhängern, die sich in zahlreichen Klöstern über das nördliche Afrika verbreiteten und so der Lehre ihres Meisters weite Geltung verschafften. Da zu den Forderungen des Scheich der Senussi eine Bewahrung echt mohammedanischen Wesens und somit eine Abwehr des Eindringens eines abendländischen Geistes gehörte, hat in dieser Lehre ein gewisser Fanatismus gegen die europäischen Mächte und Nationen Platz gegriffen. Infolge von Mißhelligkeiten mit den Vertretern der türkischen Regierung verlegte der Scheich im Jahre 1855 seinen Sitz nach dem Hinterlande der Cyrenaika, nämlich nach der am Fuße des libyschen Wüstenplateaus gelegenen Oase Djarbub. 1895 wurde das Hauptkloster der Senussi abermals weiter nach Süden gerückt und zwar nach Kebabo, der südlichsten der Kufra-Oasen, und vor zehn Jahren sogar in den nördlichen Sudan hinein, nämlich nach der kleinen Oase Geru, die sich auf dem Wege von Kebabo nach Abeschehr, der Hauptstadt von Wadai, befindet.

Vom tripolitanischen Kriegsschauplatz. - Italienische Vorposten halten eine Eingeborenenkarawane auf
Vom tripolitanischen Kriegsschauplatz. – Italienische Vorposten halten eine Eingeborenenkarawane auf. Die Karawanen werden durchsucht, um den Türken und Arabern im Inneren des Landes die Zufuhr von Lebensmitteln und Waffen abzuschneiden. Sonderaufnahme von Central News, übermittelt von Tripols durch Extradienst der Warwick Tading Co.

In den Kämpfen, die zwischen den nach dem östlichen Sudan vorrückenden Franzosen und den Eingeborenen Zentralafrikas sich in den lebten zehn Jahren abspielten, haben die Senussi anfeuernd auf den Mut der Verteidiger ihres Landes gewirkt. So ist alle Wahrscheinlichkeit gegeben, daß der heilige Kriegsruf des Sidi Ahmed, des gegenwärtigen Großmeisters des Ordens, den Widerstand der Bewohner des tripolitanischen Hinterlandes mächtig entfacht und die Italiener für viele Jahre mit dem Niederhalten und der Unschädlichmachung dieser nicht ungefährlichen religiösen Erregung beschäftigen wird. Daß der „Djihad“ aus Anlaß der italienischen Okkupation von Tripolitanien weitere Kreise ziehen und sich gegen die übrigen europäischen Nationen richten wird, scheint mir bei der örtlichen Beschränktheit der Macht der Senussi, die über Nord- und Zentralafrika nicht hinausgeht, sowie bei der Zurückhaltung führender religiöser Kreise in Konstantinopel als ziemlich unwahrscheinlich.

Dieser Artikel erschien zuerst in Reclams Universum Weltrundschau vom 23.-28.10.1911. Dieser Artikel war nicht bebilder. Die hier gezeigten Bilder waren Teil der gleichen Ausgabe der Reclams Universum Weltrundschau, jedoch nicht Teil des Artikels.