O dolce Napoli!

Plauderei von E. Vely. Neapel ist durch ein Lächeln des Schöpfers entstanden, heißt es im Volksmund, und noch ein anderes Sprichwort wird häufig wiederholt – besonders von den Fremden: „sieh Neapel und stirb! Vedi Napoli se poz muori!“

Da zwinkert dann freilich der Eingeborene mit den großen schwarzen Augen und macht eine Bewegung mit dem Daumen. „Die Dummen werden nicht alle, soll das bedeuten, denn der Neapolitaner übersetzt: „sieh Neapel und dann Mori (ein Dorf unweit der Stadt)“, und er lacht über den Witz, der schon zu Millionen Malen gemacht ist.

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Aber „süß, hold, herrlich“ ist ihm sein Golfo di Napoli, wie er es den Römern gewesen, die wohl wußten, warum sie sich dort Villen bauten. Julius Cäsar so gut wie Augustus, die reichen Patrizier und die Heerführer, die das Schwert mit dem Pflug vertauschten. seit nicht mehr der reisende Brite das Hauptkontingent stellt von Leuten, die sich in fremde Länder und über die Meere wagen, seit wir Deutschen auch das Bewegen und Schauen gelernt haben und mit Scheffel singen und sagen: „Mag sitzen und trauern, wer will hinter Mauern, ich fahr in die Welt!“ ist uns Italien nicht mehr das Land der Sehnsucht – es ist eroberter Boden. Denn wer’s nur irgend vermag, sei’s auch mit schwer erspartem Reiseschilling, der heimst sich doch einmal im Leben ein paar Wochen unter blauem Himmel, grünen Pinien, am rauschenden Seegestade ein, in dem Land jenseits der Alpen, wohin es unsere Vorfahren, die Zimbern und Teutonen zog. Und man überfährt und durchquert das Gebirge ja auch leichter als dazumal, wo jene auf dem Schild hinabrutschen mußten.

Rückkehr der Barken
Am Golf von Neapel – Die Fischer holen ihre Netze ein

War man in Rom, so geht man auch nach Neapel, um auf den Ernst und das Studium von drei Kulturepochen den Genuß lachender Natur folgen zu lassen. Neapels größte Schönheit zeigt sich vom Meer aus, sein Straßenleben mit der Buntfarbigkeit, die es früher bot, hat an Charakteristik und malerischer Wirkung verloren, seit es hygienisch besser dort bestellt ist. Auf Santa Lucia singt und tanzt man nicht mehr wie einst, und Nationalkostüme sieht man nur in unsern Opern. Aber seine Paläste, Türme und Zitadellen, umkränzt von den sanftwelligen Bergen, überragt von dem Vesuv mit der stets leicht aufstrebenden Rauchwolke, kann man von allen Seiten der blauenden Bucht mit immer neuer Freude betrachten. sei es von Sorrento aus, das fast den Preis vor allen Punkten verdient, von Castellamare oder Torre dell Annunziata bei Pompeji. Entzückend für sich allein sind die Buchten von Pozzuoli und Bajä – und welch historischer Platz ist das letztere, von dem Horaz singt: „Kein Meerbusen der Welt strahlt mehr, als das liebliche Bajä! was natürlich jeder deutsche Professor zitiert, der hierher kommt und daran denkt, daß Nero seine Mutter, die stolze Agrippina, hier in dem lieblichen Golf ihre Todesfahrt machen ließ. Der Gourmet bekundet sein gastronomisches Wissen, indem er sich erinnert, daß der nahe Lacus Lucrinus zu Römerzeiten die besten Austern lieferte und der deutsche junge Referendar, dem Vater ein Reiseportemonnaie nach wohl überstandenen Examen einhändigte, gerät in Amalfi, das die Engländer konsequent Emmelfei benennen, über die heimischen Tänze in Entzücken und bereichert seine Sprachkenntnisse um die Worte: »O, com’ e bella Carmosinella, wie sie tanzt la tarantella.“

In den Ruinen von Pompeji
Im Hause der Vettier
In Pompeji – Auffindung eines Vasenfragments

Pompeji bietet nicht mehr nur den Archäologen ein Bild alter römischer Städte, der gebildete Reisende freut sich des Anschauungsunterrichts; er durchwandert die Straßen mit den vor zweitausend Jahren ausgefahrenen Gleisen mit stillen Gedanken, liest das cave canem und sitzt auf der Gräberstraße auf der Bank „der Mamia“. Und der nicht von den geringsten Wissensqualen Beladene macht sein harmloses Gesicht wie vor irgendeiner Schaufensterauslage daheim: „Nee, nu aber! Was ist denn das auch?“ Die funniculi, die Drahtbahn, führt bis zum Kegel des Vesuvs – sie gewährt den Niederblick auf durchschnittene Lavaströme und in furchtbare Abgründe.

Auffahrt zum Observatorium des Vesuvs
Ein Ausflug nach dem Vesuv

Man erlebt, daß sich die Menschen erschreckt die Augen zuhalten und unwillkürlich hilfesuchend sich an den Nachbar drängen, man hört aber auch in Amerikanisch-Englisch: „Oh, beautiful! delightful!“ – In Schwefeldampf und Rauch geht’s hinauf, oft lassen sich ängstliche Seelen tragen, andere werden geführt bis zum Krater – und hustend und prustend kommt man zurück. „Da unten aber ist’s fürchterlich“ Den Blick in die Werkstatt Vulkans, die Mühe, die Absonderlichkeit der Stunde feiert man dann im Restaurant bei Lacrimae Christi – und läßt in dem glühend die Adern durchtobenden Vesuvwein leben, was daheim, was man liebt – was man erhofft. Und ein Weltweiser sitzt wohl neben der aufjauchzenden Jugend und lächelt – „abgelaufen hab ich das an den Sohlen schon!“

Noch ein Zauberwort für deutsche Ohren ist „Capri“. Die Insel des Tiberius mit dem blauen Grottenzauber muß in jedes Reiseprogramm für Neapel aufgenommen werden, sonst darf man sich daheim ja gar nicht zeigen, dann flöge die Redensart selbstverständlich an den Kopf, daß man das schönste nicht gesehen. Einmal bequemt sich natürlich jeder, der dort unten ist, im Boot geduckt liegend, mit der Welle einzuschießen in die blaue Grotte. Dann ist die Sehnsucht gestillt. Bei der zweiten und dritten Wiederkehr überläßt man andern das Vergnügen, schön ist Capri, trotzdem jetzt männiglich an der piccola marina deutsche Lieder singt und die braune Band nach dem soldo als Lohn dafür ausstreckt. All die deutschen Maler und Malerinnen sind Lehrmeister gewesen für die Bambini, die die Fremden umschwärmen.

Es ist schön, daß Reiselust über uns gekommen, es ist prächtig, daß nicht mehr allzu große Mittel dazu gehören, sie zu befriedigen. Der länderverknüpfende Schienenweg hat’s verursacht. Nun ist dem deutschen Geschichtsforscher, der früher ein ganzes Leben lang seinen Schülern alte Römerkunde vortrug und der im sonnigen Italien besser Bescheid wußte, als zu Hause, doch die Möglichkeit gegeben, einmal dahin zu pilgern.

Ein Ausflug nach Capri – Abbrennen von Feuerwerk bei Abfahrt der Touristen

Vielfach geben sich die Menschen auf Reisen, unbeengt von Kastenzwang und Formenfessel, freier und liebenswürdiger, wahrer sogar. Und manche Herzen, finden sich und viele Freundschaften werden fürs Leben geschlossen.

Einfahrt in die blaue Grotte
Die Touristen müssen sich ganz klein machen, um die enge Einfahrt zur blauen Grotte passieren zu können

Eins aber bringt der Einsamste stets mit nach Hause – Neuland! Was man auf Reisen sah, besitzt man, trägt man heim als unveräußerlich. Daran sollte mancher Stubenhocker zu rechter Zeit denken – im verdrießlichen Nebelgrau des Nordens steigt ihm nach lang verklungener Reisezeit im Land, wo die Zitronen blühn, doch hin und wieder das Bild des lachenden Golfes auf, und eine Melodie summt ihm durch den Sinn: „O dolce Napoli, o suol beato!“

Dieser Artikel erschien zuerst am 04.10.1902 in Die Woche.