Wippchen über seinen Vater

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Julius Stettenheim, der berühmte Wippchen-Schriftsteller, feiert am 2. November in Berlin seinen 80. Geburtstag. Um unseren Lesern eine Kostprobe seines Humors und seines Witzes zu geben, haben wir den Jubilar gebeten, seinen eigenen Lebenslauf im Wippchenstil zu schildern.

Vor mir liegt der Büchmann. Ich würde auch sagen: „Vor mir lügt der Büchmann“, indem ich lese: „J. St.’s (geb. 1831 ergötzlicher Lügenberichterstatter und Verdreher geflügelter Worte“, wenn ich nicht bedachte, daß es nichts gibt, was humanumer ist als das Errare. Wir alle sind Menschen, der eine ist weniger Mensch als der andere, und dieser ist es noch weniger. Das Dichten und Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf, sagt die Bibel, und wie böse dieses Dichten ist, das sagt uns die moderne Literatur, und wie böse das Trachten, das lehrt uns jede Tracht Prügel, die selbst Hochgeborene verdient haben, ohne daß sie sie bekommen. Damit ist aber doch noch lange nicht bewiesen, daß jeder Berichterstatter, der sich und somit auch den Leser irrt, ein Lügner, und jeder, der dann und wann Herrn Büchmann verdreht, ein gewerbsmäßiger Verdreher oder gar selbst verdreht ist. Das wäre doch noch bitterer als Boonekamp. Wenn ich einmal ein griechisches Kind nicht abhalte, Alpha alpha zu sagen, was habe ich denn da gelogen oder verdreht? Hätte das betreffende Hellenenkind vielleicht voraus bitten sollen: Verzeihen Sie das harte Wort! Kein Kind des Universum in vielleicht dreimonatigem Alter kann das sagen, noch weniger aber kann es wissen, ob sein Alpha alpha ein hartes oder ein weiches Wort sei.

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Ein Lügenberichterstatter ist allerdings ein hartes Wort, fast möchte ich nicht nur sagen wie: Eisen, ein Stück Arbeit, hörig, gesotten, näckig, mäulig, oder wie der Landgraf werden sollte, sondern ich sage es auch. Das Wort ist um so härter, als der Erfinder dieses Wortes anzunehmen scheint, daß die Zeitungen völlig jenseits von Wahrheit und Ente geschrieben, geschnitten und gekleistert werden, daß sich nie die kurzen Beine der Lüge in den Spalten blicken lassen und daß sie ausschließlich in einer Luft redigiert werden, aus der niemals etwas gegriffen wird. Solche Blätter gibt es aber nicht, wie es keine ganz nikotinfreien Tabaksblätter oder ganz koffeinfreien Kaffeeschwestern gibt. Diesen Schatten werfe ich voraus, indem ich mich in meinem trauten Bernau an meinen Schreibtisch setze und mit besonderem Vergnügen die Tinte ergreife, um über den Mann zu schreiben, dem ich das Dasein verdanke und der heute vor achtzig Jahren, am 2. November 1881, in Hamburg das Auge aufschlug, um das Licht der Welt zu erblicken.

Dieser Mann hieß Julius Stettenheim.

Über das Licht der Welt ist schon viel publiziert worden. Es wird täglich von vielen tausend Kindern erblickt, indem sie das Zeitliche ihrer Vergangenheit segnen und eine der beiden Halbkugeln zu ihrer Heimat erheben. Aber wenn ich annehme, daß mit dem Licht der Welt die Sonne gemeint ist, so darf ich auch wohl annehmen, daß die Sonne gelacht hat, als sie Stettenheim erblickte. Denn daß Stettenheim ein Humorist ist, das steht doch wohl so fest, wie Pfingsten ein solches ist, von dem Goethe singt: „Pfingsten, das liebliche Fest.“

Julius Stettenheim. Photo Maria Wolff, Berlin
Julius Stettenheim. Photo Maria Wolff, Berlin

Stettenheim hatte weder die Kinderschuhe noch die Kinderschule vertreten, als er schon nicht zu bewegen war, das weiße Papier zu schonen und es nicht in Manuskript zu verwandeln. Wohin er mit seinen jugendlichen Versfüßen trat, da wuchs kein Gras, in das er lieber gebissen hätte, als daß er zu bewegen gewesen wäre, dem Pegasus drei Schritte vom Leibe zu bleiben. Das blieb nicht ohne üble Folgen. Im Gegenteil. Als er in der Schule eine von ihm geschriebene Zeitung herausgab, wurde er von den Lehrern nach kurzem überlegen auf den bloßen Verdacht hin gehauen, daß er eine zweite Nummer seines Blattes herausgeben würde.

Aber je dichter die Schläge auf ihn niedersausten, desto Dichter wurde der junge Mensch. Das ist ja auch eine alte Erfahrung. Immer hat die Strenge das Gegenteil erreicht. Wenn Schiller nicht infolge seiner Räuber wie ein solcher verfolgt worden wäre, so hätte er vielleicht niemals Kabale und Liebe usw. verfaßt, die Jungfrau von Orleans wäre im Keim erstickt und Geßler lebte heute noch, weil Tell nie geschrieben worden wäre. Hätte man Napoleon bares Geld statt Knüppel zwischen die Beine geworfen, so wäre er niemals Bonaparte geworden. Wenn man die Ketzer nicht verbrannt hätte, so gäbe es heute keine mehr. Immer und überall sehen wir keine Rosen ohne Dornen auf den Weg gestreut und des Harms vergessen!

Eines Morgens erwachte Stettenheim und war nicht berühmt. Er war der umgekehrte Byron (sprich: Byron), dem zur Berühmtheit nur das Aufwachen fehlte. Sofort schnürte er seine wenigen Sachen, deren er nur sieben hatte, und beschloß, die Berliner Universität zu besuchen, nachdem ihm gesagt worden war, daß er für Bonn nicht adlig genug sei. Gern hätte er ein Brotstudium ergriffen, aber das war ihm zu trocken, er studierte daher Philosophie und hörte außer deren Vertreter, bei denen ihm Hören und Sehen verging, solche Konzerte, in denen geraucht und Bier getrunken wurde. Er bewohnte unterm Dach in der Schumann-Straße ein Nebenzimmer, das so billig war, daß er niemals die Miete schuldig bleiben konnte, und nach sechs Semestern kehrte er zu den Fleischtöpfen Hamburgs zurück. Hier gründete er die „Wespen“. Aber sie gingen nur, weil sie niemand hielt, und so gestaltete sich sein Redigieren zu einem arbeitsreichen Verhungern mit Hindernissen, die schwer zu überwinden waren. So hatte er immer genug, dann und wann seinen Hunger zu stillen, obschon dieser kein Kind, sondern ziemlich aufgewachsen war. Als dann im Jahr 1870 in Paris der Ruf „a Berlin!“ ertönte, war dieser Ruf schon im Jahr 1868, also zwei Jahre vorher, an ihn laut geworden, und Stettenheim hatte sich dies nicht zweimal sagen lassen, sondern war mit Sack und – verzeihen Sie das harte Wort! – Pack, also mit seinen „Wespen“, in die Hauptstadt des künftigen Deutschen Reiches hinübergesiedelt.

Hier schrieb man den 4. Mai 1877, als ich zum erstenmal geschrieben wurde. Ich werde also am 4. Mai 1957 so alt werden, wie mein Vater heute ist, der so gern mit mir tauschen würde, um 34 alt zu sein, 46 Jahre jünger.

Aber es war trotzdem dem Alter nicht möglich, meinem „Alten“ ein Spaßverderber zu werden. Ich blicke heute auf eine Menge Kriege zurück, in die mich mein Vater als Kriegsberichterstatter geschickt hat. Alle Haare, in die sich seit länger als 34 Jahren die Völker zu Wasser und zu Lande gerieten, habe ich mit gemacht; kein Schlachtfeld war mir zu groß, kein Scharmlttzel zu klein, kein Landkrieg zu fern, kein Seekrieg zu balkenlos. Manche wilde Flucht habe ich gezähmt, manche Festung vom Erdboden, dem ich sie gleichmachte, rasiert, und wenn der Frieden zu lange ausblieb, so habe ich ihn abgeschlossen, der Feind und der Freund mochten wollen oder nicht.

Doch nicht von mir soll die Rede sein, sondern von meinem Vater, der heute achtzigjährig ist und so rüstig in das einundachtzigste geht, als habe er die Gichtschuhe noch nicht vertreten, in die er vor länger als einem Jahr seine Füße geschoben hat, als wenn diese allein an allem schuld seien. Er arbeitet noch und mehr als im vorigen Jahrhundert. Er sagt: „Arbeit macht zwar das Leben süß, und ich habe Süßigkeiten nie recht vertragen können, besonders zog ich Butterbrot vor, wenn nichts anderes vorhanden war, aber die Arbeit erhält alt, wenn wir es sind, obschon ich auch gern zugeben will, daß ich stundenlang ohne sie leben könnte.“

Vater Stettenheim lebt in Berlin in der Potsdamer Straße 52 in einem Gartenhaus zwei Treppen hoch und zum zweiten- und zum drittenmal hoch! hoch! hoch!

Dieser Artikel erschien zuerst in Reclams Universum Weltrundschau 16.-22.10.1911.