Das erste Offiziersdamenheim

Wenn der Wanderer seine Schritte nach Krummhübel an den Fuß des Riesengebirges lenkt, winkt ihm schon von fern ein edler, schlichter Bau entgegen.

Nicht prunkvoll und prächtig ist das Haus, das er erblickt, nein, einfach, fast schmucklos und doch so harmonisch in seinem ganzen Gefüge bietet es sich dar. Von einer kleinen Anhöhe blickt es freundlich nieder, und die liebe Sonne spiegelt sich in seinen blanken Fensterscheiben. Das ist Charlottenheim, die Heimstätte, die die Schwester unseres Kaisers für die früh verwitweten, früh verwaisten Angehörigen derer errichtet hat, die einst ihrem Vaterland in dem Kleid des Kriegers treu gedient hatten und nun dahingeschieden sind.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Auch mir war es vergönnt, das Stift kennen zu lernen, und zwar war es die hohe Frau selbst, die mich in die näheren Einzelheiten seines Entstehens einweihte und mir alles persönlich zeigte und erklärte. Am 24. Juli 1900 war es, als die Erbprinzessin den Beschluß faßte, eine derartige Schöpfung ins Leben zu rufen. Zahllose Bittgesuche aus den Kreisen verwitweter und verwaister Offiziersangehöriger flößten ihr den Gedanken dazu ein. In schlaflosen Nächten – wie mir die hohe Frau selbst sagte – reifte der Gedanke zur That. Kein leichtes Unternehmen war es, viele Schwierigkeiten waren zu überwinden, viele Vorurteile zu besiegen. Aber das gütige Frauenherz mit dem Mannesmut rang durch. Es bildete sich der Offiziersdamenhilfsverein für das VI. Armeekorps, und man wurde aufmerksam auf das Unternehmen. Der Kaiser stellte sich dem Plan sympathisch gegenüber und zeichnete einen namhaften Beitrag, hervorragende deutsche Fürsten folgten seinem Beispiel, viele schlesische Magnaten schlossen sich an, Großgrundbesitzer und Großindustrielle der Provinz beteiligten sich an der Beschaffung der nötigen Mittel. Tüchtige und hilfreiche Mitarbeiter standen der Prinzessin zur Seite, ihr hoher Gemahl, der Erbprinz, unterstützte sie mit seiner militärischen Erfahrung und seinem Rat, der Oberstleutnant von Gomlicki vom Generalkommando übernahm freudig das arbeitsvolle Amt des Schriftführers, und der Bankdirektor Rittmeister a. D. Fromberg verwaltete die Kasse als Schatzmeister. Eine Reihe bewährter Kräfte brachte die Gedanken der Prinzessin zur Ausführung. Der Architekt Grosse leitete die eigentlichen Bauarbeiten, und der Garteningenieur Menzel, beide aus Breslau, stellte die Gartenanlage her. Rastlos in stiller Arbeit schritt das schöne Werk fort, Baustein auf Baustein baute sich auf, und heute steht das Stift vollendet da, zu Nutz und Frommen jener, für die es bestimmt, zur Ehre und Nacheiferung derer, die es erdacht.

Besuch des Erbprinzen und der Erbprinzessin von Sachsen-Meiningen im Charlottenheim

Denn die Seele des Ganzen war doch die Erbprinzessin selbst; Sommer und Winter fuhr sie von Breslau nach Krummhübel, um den Bau zu überwachen. Am 11. November 1900 wurde das Grundstück in der Größe von 55 Morgen von einem Bauern gekauft, fünf Morgen wurden zu Haus und Garten verwendet, die weiteren 50 sollen nutzbringend als Baustellen verkauft werden. Zu Pfingsten 1901 erfolgte der erste Spatenstich und am 24. Juli darauf die Grundsteinlegung mit Richtefest. Der Hammerspruch, den die hohe Frau bei dieser Gelegenheit sprach, lautete: „Harter Stein schließe ein – der Arbeit müh – Gott schütz und kröne sie.“ Der Spruch steht eingemeißelt auf der Grundsteinmauer an der Stirnseite des Hauses. Nach der Prinzessin führten noch der Erbprinz, der Chef des Generalstabs des VI. Armeekorps Oberst Röhl, der Hofchef Major Freiherr von Röder und viele andere Herren des Komitees die üblichen Hammerschläge aus. Am 1. Juli 1902 war Haus und Garten so weit fertig, daß das Institut seiner Bestimmung übergeben werden konnte, und heute wird es bereits von vierzig Damen unter dem Vorsitz der Oberin Fräulein von Klitzing bewohnt.

Wenn man die Einzelheiten in Haus und Garten betrachtet, so merkt man deutlich, daß hier ein einziger leitender Grundgedanke vorgeherrscht hatte, der bis ins kleinste zäh und beharrlich durchgeführt worden ist. Von den im modernsten Stil hergestellten größeren Einrichtungen in Wohnräumen, Küche und Badezimmern, von den elektrischen Beleuchtungsanlagen und der Dampfheizung bis auf die kleinen schmucken Briefkästchen, die mit den Thüren der Wohnzimmer in einem verbunden sind – einer besonderen Erfindung der Erbprinzessin – war alles von der hohen Frau selbst angeordnet und erdacht worden. Durchschreitet man den mit Geschmack und Kunstsinn angelegten Garten, der sich hinab bis an das wilde, mit Felstrümmern übersäte Bett der Lomnitz erstreckt, so fällt einem zuerst der schöne, von Kommerzienrat Richter aus Arnsdorf gestiftete und von Bildhauer Böse aus Berlin modellierte Monumentalbrunnen ins Auge.

Den Brunnen ziert das Reliefbild der Erbprinzessin, sein Sockel ist errichtet aus Steinen und Felsstücken, die das furchtbare Hochwasser der Lomnitz im Jahr 1897 angeschwemmt hatte. Es war ein sinnreicher Gedanke, diese Steine zu verwenden, sie bilden für die Schwester des Kaisers noch ein anderes ehrendes Denkmal; denn unvergessen wird es bleiben, mit welcher Aufopferung und Hingebung Prinzessin Charlotte in den kritischen Tagen des Jahres 1897 den schwer heimgesuchten Bewohnern dieses Landstrichs Trost und Hilfe brachte, unvergessen wird es in den Herzen der einfachen Riesengebirgler bleiben, daß sich die hohe Frau nicht scheute über Geröll und Schutt zu klettern, durch Wasser und Schlamm zu waten, um in die einfachsten Hütten der Armen die Werke der Liebe und Barmherzigkeit zu tragen.

Doch betreten wir wieder die Innenräume des Heims. Alles ist höchst praktisch, einfach und doch modern eingerichtet. Die Zimmer sind geräumig, hell, luftig und freundlich.

Das Charlottenheim in Krummhübel
Wohnzimmer
Musik- und Unterhaltungszimmer

Den großen Speisesaal ziert die von Bildhauer Böse aus, geführte Büste der Prinzessin, die Gemälde von Kaiser und Kaiserin Friedrich schmücken die Wände. sehr hübsch sind Küche und Speisekammern im echten schlesischen Bauernstil ausgeführt und doch mit allen Errungenschaften moderner Technik versehen. Die Erbprinzessin, deren ganzes Herz an ihrer schönen Schöpfung hängt und die bei ihren häufigen Besuchen niemals versäumt, irgendwelche nützliche Gegenstände für den Haushalt mitzubringen, machte in der liebenswürdigsten Weise die Führerin durch das Stift; auch der Erbprinz ließ es sich sehr angelegen sein, als freundlicher Cicerone zu walten.

Möge die Schöpfung der Erbprinzessin wachsen und gedeihen, und möge dieser edle Gedanke, der sich dort am Fuß des Riesengebirges verkörperte, auch in andern Teilen des Deutschen Reichs Nachahmung finden.

Dieser Artikel von Chlodwig Graf zu Sayn-Wittgenstein erschien zuerst am 23.08.1902 in Die Woche.