Die neue Wasserkraft-Anlage des Elektrizitätswerkes Stuttgart zu Marbach a. N.

Die neue Wasserkraft-Anlage des Elektrizitätswerkes Stuttgart zu Marbach a. N.

Der Verbrauch an elektrischer Energie ist ein ständig wachsender. Ungeheuer sind die Fortschritte, welche in dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts in dieser Richtung gemacht worden sind und es sollte sich zeigen, dass auch Stuttgart mit der Erwerbung zweier Gefälle am Neckar bei Poppenweiler in 16 km Entfernung und bei Marbach in 20 km Entfernung einem bald eintretenden Bedürfniss in vorbeugender Weise entgegengekommen ist.

Das Elektrizitätswerk Stuttgart, das von der Firma Schuckert gebaut und an die kontinentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen übergegangen war, ist seitdem J. 1895 in Betrieb. Es hat die Strassenbahn zu versorgen und die elektrische Beleuchtung in Privatanwesen sammt dem Kraftbedarf für Motoren zu leisten, während die Strassen-Beleuchtung in der Hauptsache noch mittels Gasglühlicht erfolgt, das in der nunmehr städtischen Gasfabrik erzeugt wird. Für Strassenbahnen ist der künftige Bedarf für eine Anzahl weiterer Linien ein sehr bedeutender, gegenwärtig beträgt er mehr als 600 H,P., während die Energie für Abgabe von Licht und Kraft auf weit über 2000 H.P. gestiegen ist. Die Erwartungen bezüglich der Steigerung des Konsums, welche im Jahrg. 1898 S. 603 ausgesprochen worden sind, haben sich mehr als erfüllt. Die Inbetriebsetzung der Wasserwerks- Anlage war eine dringende Nothwendigkeit geworden. Dieselbe ist probeweise im Dezember 1899 erfolgt und hat insbesondere bei den seither vorgenommenen Messungen und Abnahme-Versuchen, welche im April d. Js. zum Abschluss gekommen sind, sehr günstige Ergebnisse zutage gefördert.

Die neue Wasserkraft-Anlage des Elektrizitätswerkes Stuttgart zu Marbach a. N.
Die neue Wasserkraft-Anlage des Elektrizitätswerkes Stuttgart zu Marbach a. N.

Was die von Voith in Heidenheim in vorzüglicher Ausführung gelieferten vier Turbinen anbetrifft, so sind dieselben mit Rücksicht auf die wünschenswerthe Zugänglichkeit über den Unterwasserspiegel herauf genommen. Das Arbeiten mit Sauggefälle und die aus Beton hergestellten syphonartigen Turbinenausläufe haben sich trefflich bewährt. Die Ausnützung der verschiedenen Wasserstände ist in vollem Maasse rationell durchgeführt. Mit jeder der genannten Turbinen ist eine Drehstromdynamo-Maschine mit 200 K.W.-Leistung von der Elektrizitäts-Aktien-Gesellschaft Schuckert & Cie., welche für die General-Unternehmerin den elektrischen Theil der Anlage ausgeführt hat, unmittelbar gekuppelt. Diese Maschinen sind für eine Spannung von 11 000 Volt gebaut. Die Polwechselzahl beträgt 100. Für die Erregung sind 2 Schuckert’sche Drehstrom-Gleichstrom-Umformer von 12 K.W. aufgestellt, welche in Verbindung mit einer Akkumulatoren-Batterie von 288 Ampére-Stunden Kapazität und 96 Ampére Entladestrom zugleich für die Stations-Beleuchtung und die ganz ausgezeichnete Turbinen-Regulirung dienen. Die letztere geschieht durch magnetische Kuppelung einer von der Turbinenachse angetriebenen Welle mit dem Regulirgetriebe. Die Regulatoren können sowohl von den Turbinen selbst als auch von der Apparatenwand aus in Thätigkeit gesetzt werden. Letzteres ist besonders wichtig beim Parallelschalten der Maschinen, oder bei besonderen Vorkommnissen, wie plötzlichen Betriebsstörungen, welche bei Kurzschlüssen oder Blitzschlägen in der Leitung leicht eintreten können.

Die neue Wasserkraft-Anlage des Elektrizitätswerkes Stuttgart zu Marbach a. N.
Die neue Wasserkraft-Anlage des Elektrizitätswerkes Stuttgart zu Marbach a. N.

Da die oben genannten kleinen Drehstrom-Motoren zum Antrieb der Gleichstrom-Maschinen aus betriebstechnischen Gründen nicht für 10 000 Volt eingerichtet werden können, sind zur Herabsetzung der Spannung 2 Transformatoren mit 14 K.-W. Leistung angeordnet, welche den Strom von 10 000 Volt auf 100 Volt transformiren. Die Transformatoren sind in dem Westraum hinter der Apparatenwand aufgestellt, wo auch die sämmtlichen Verbindungs-Leitungen, Sicherungen und Hochspannungs-Ausschalter untergebracht sind, so dass an der Apparatenwand selbst nur die Bedienungsgriffe und Kontrollapparale zu sehen sind. Letztere sind ebenfalls dadurch vollkommen ungefährlich eingerichtet, dass der die Apparate durchfliessende Strom zuerst im Messraum mittels besonderer Messtransformatoren auf eine durchaus ungefährliche Spannung gebracht wird.

Die sämmtlichen von dem Baugeschäft von Thormann & Stiefelin Augsburg in Beton ausgeführten sehr schwierigen Wasserbau-Arbeiten haben den gehegten Erwartungen in allen Theilen auf das beste entsprochen.

Ganz besonders ansprechend hat sich der Aufbau des vom Ober-Architekt Schmitz der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert & Co. in Nürnberg entworfenen Werksgebäudes gestaltet. Dasselbe erhebt sich gegenüber den Mauern der alten Schillerstadt mit seinem Treppengiebel und schlanken Leitungs-Thürmchen leicht und gefällig auf einer Insel mitten aus dem tief eingeschnittenen Thale des Neckars. Der über Hochwasser liegende eiserne Steg, welcher das Haus mit dem linksseitigen Hochufer verbindet, ist an der Stelle, wo die alten Mühlen standen, mit einem giebelbekrönten Thorbau abgeschlossen, an den sich unter Benutzung der alten Ufermauer mit ihren Architekturtheilen eine prächtig gelegene Terrasse anschliesst.

Manche besondere Schwierigkeiten hat die Kraftübertragung bereitet. Dieselbe erfolgt auf 20 km oberirdisch. Die Ausführung der 6 Leitungen aus dem Westraum nach der Fernleitung geschieht durch die feuerfeste hohle Spindel der Thurmtreppe mit 0,8 m Durchmesser. Dieselbe ist zur Revision der Leitungen und Isolatoren mit einer eisernen Steigleiter versehen. An den Leitungen ist zur Vermeidung von Induktions-Wirkungen an 6 Punkten eine Verdrillung vorgenommen.

An 8 Stellen sind die Leitungen durch Hörnerblitzschutz-Vorrichtungen gesichert. Am Eintritt in das eigentliche Stadtgebiet endigt die oberirdische Fernleitung und geht in eine unterirdısche über. Die Umformung des Stromes von 10 000 auf 3000 Volt geschieht durch drei stehende Transformatoren von je 300 K.W. Leistung in einer eigenen kleinen Transformatoren-Station auf der Prag. Von derselben führen 2 dreifach verseilte Kabel mit Adern von je 95 mm Kupferquerschnitt aus der Kabelfabrik Carlswerk von Felten & Guilleaume in Mühlheim a. Rh. nach der Station II. im Stöckach und von da nach der Station I. in der Marienstrasse.

Die von Marbach stammende Energie wird in den beiden Stationen aus Drehstrom in Gleichstrom umgewandelt. Zu diesem Zweck sind im Stöckach 2 rotirende Drehstrom-Gleichstrom-Umformer von 145 K.W. Leistung aufgestellt, deren Gleichstromanker mit 2 Wicklungen versehen sind, sodass bei Parallelschaltung auf das Lichtnetz und bei Hintereinanderschaltung auf das Bahnnetz gearbeitet werden kann. Dem gleichen Zweck dienen in der Marienstrasse 3 solcher Umformer mit je 210 K.W. Leistung, von denen der erste nur für die Stromversorgung ins Lichtnetz eingerichtet ist, während der zweite, wie der Umformer im Stöckach, mit 2 umschaltbaren Wicklungen versehen ist und der dritte nur Strom mit der für die Strassenbahn nothwendigen Spannung von 500 Volt liefert.

Was die Gesammtkosten der hiermit vollzogenen Erweiterung des Elektrizitäts-Werkes betrifft, so sind zwei Hauptgruppen zu unterscheiden: In die erste Gruppe fallen die Kostenbeiträge, welche mit der Einführung des Wasserkraft-Betriebes von Marbach unmittelbar zusammenhängen.

Dieselben sind:

Wasserbauten in Marbach350 000 M.
Hochbauten120 000 M.
Maschinelle Anlagen in Marbach190 000 M.
Elektrische Anlagen in Marbach200 000 M.
Fernleitung220 000 M.
Transformatoren – Station Prag, Hochbau26 000 M.
Elektrische Anlagen50 000 M.

1 156 000 M.

Die zweite Gruppe enthält die Arbeiten, welche für die Ausdehnung des Werkes auch dann nothwendig geworden wären, wenn dieselbe statt mit Wasserkraft mittels Dampfkraft erfolgt wäre.

Dieselben betrugen:

In der Station I. (Zentrale in der Marienstrasse):


Veränderungen am Hochbau10 000 M.

Elektrische Anlage150 000 M.
In der Station II. (Unterstation im Stöckach):


Hochbau200 000 M.

Elektrische Anlage110 000 M.

Akkumulatoren74 000 M.
Ferner Kabelleitungen
300 000 M.

Zusammen:844 000 M.

Imganzen hiernach 2 000 060 M.

Die Anlage wird für die Zukunft ständig Tag und Nacht in Betrieb sein und damit einen wesentlichen Theil der Energie-Erzeugung für den immer grösser werdenden Verbrauch übernehmen. Vom Jahre 1896 bis heute ist die Zahl der 16kerzigen Aequivalentlampen von 32 400 auf 87 800 gestiegen und zwar ohne Berücksichtigung des Stromverbrauchs für die Strassenbahn, der sich bei der starken Ausdehnung der neuen Linien in ganz kurzer Zeit verdoppeln wird.

Aus den vorstehenden kurzen Notizen kann im Zusammenhalt mit der oben erwähnten Veröffentlichung vom Jahre 1898, deren Voraussetzungen in vollem Maasse eingetreten sind, mit Genugthuung entnommen werden, dass es dem oberleitenden Ingenieur, Stadtbaurath Kölle in Stuttgart, im Verein mit den ausführenden Organen gelungen ist, eine in allen Theilen zweckentsprechende mustergiltige, den schwierigen Verhältnissen vorzüglich angepasste Anlage zu schaffen.

Das kam auch zum Ausdruck bei der am 18. Mai d. J. stattgehabten feierlichen Uebernahme der Wasserkraft-Anlage in Marbach. Die Vertreter der königl. Regierung, der Nachbarstädte, der ausführenden Firmen und der Stadt Stuttgart mit ihren Beamten hatten sich eingefunden, um das neue Werk unter sachkundiger Führung eingehend zu besichtigen und die Vollendung mit einem fröhlichen Trunk zu feiern. In der Reihe der Unternehmungen zur Vervollkommnung unserer industriellen Entwicklung und der Erhöhung unserer Lebenshaltung durch Aufschluss der heimischen Kräfte bietet die Marbacher Wasserkraft-Anlage ein hervorragendes Glied.

Dieser Artikel erschien zuerst am 29.09.1900 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „Br.“.