Unser Schuhwerk

Wissende behaupten, die Beschäftigung mit Schuhwerk fahre zum Spintisieren. Es mag sein. Die Fußbekleidungskünstler Hans Sachs und Jakob Böhme sind ob ihres Dichtens und Spintisierens berühmt geworden.

Diesen Vorbildern nacheifernd wimmeln seitdem unter den Dichtern und Weltweisen die Schuster. Philosophierende Hausknechte gehören ebenfalls nicht zu den Seltenheiten; man rühmt ihnen nach, daß sie ihre Zimmergäste nach dem Schuhwerk zu beurteilen wüßten, nicht nur hinsichtlich des Trinkgeldes, sondern – auch dem ganzen Wesen nach.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Auch daran mag etwas Wahres sein. Es giebt Menschen, die haben einen so herrlichen schlanken, hoch gewölbten Fuß, daß ihr Schuhwerk geradezu mustergiltige Form gewinnt. Merkwürdig, das sind meist schöne oder doch geistreiche, kluge Leute. Ihr Gegenspiel sind die ungeschlachten Burschen, die auf reinen Spreekähnen einherwandeln. Ihre „Botten“ sind vorsintflutlich; wo sie hinstampfen, wächst kein Gras mehr. solche Leute sind immer langsame, bedächtige, dazu manchmal stiernackige. grobe Kerle, aber noch viel öfter gutmütige, äußerst biedere Dickhäuter. Dazwischen stehen wieder die Plattfüßler die auf ihren langen Gondeln einherwatscheln, gleich Fröschen, die aufrechtgehen sollen, und zuletzt kommen noch die Knorrfüßigen, deren Zehenballen in dicken Buckeln heraustreten und dadurch dem Schuhwerk ein so unschönes, verkrüppeltes Ansehen geben. Auch dem entspricht meist ein hart gezeichnetes, gleichsam zusammengeschobenes Gesicht. Je nun, es ist keinem gegeben, sich seine Untergestelle nach Belieben zu wählen. Doch eine sorgfältige Fußpflege von Jugend auf geübt, und ein vernünftiges Schuhwerk, das über dem Spann und in der Hacke festsitzt, den Zehen aber volle Freiheit beläßt – sie beide können unseren Füßen gute Gestalt geben und an häßlichen noch viel verbessern. Im allgemeinen sind wir mit unserm heutigen Schuhwerk nicht so schlecht daran.

Herrenschnürstiefel

Die von der Mode vorgeschriebene schmale, spitze Form zwängt allerdings die Zehen und Zehenballen etwas zu sehr ein, so daß, namentlich bei unsern lieben Damen, die eingekrümmten, schiefgewachsenen Zehen recht häufig vorkommen. Allein wir tragen doch niedrige Hacken, lassen also unsern Fuß ziemlich naturgemäß dem Boden sich aufsetzen; wir schnüren vielfach unsere Schuhe und geben dadurch unserm Fuß bei voller Bewegungsfreiheit an der richtigen Stelle den rechten Halt; wir tragen infolge des heilsamen Einflusses, den der Sport auf unsere Lebensführung und Leibeshaltung gewonnen hat, die kleidsamen und sehr gesunden niedrigen, weichsohligen Schuhe aus Segeltuch oder nachgiebigem Naturleder; wir besitzen recht gute Jagd; und Reitstiefel, die kaum bis über die Waden reichen, also das Uniegelenk und die Hauptmuskeln des Unterschenkels in ihrer Thätigkeit nicht hindern; ja wir vermögen selbst unter den Ballstiefelchen und Hausschuhen unserer besseren Hälften und derer, die es gern werden möchten, zuweilen ganz vernünftige Dinger zu entdecken. Vor allem aber stehen uns im Schaf- und Ziegen und Safftan- und Hunde- und Roß-. und Rind- und Kalb- und Schweins- und Eidechsen und Krokodil- und Reh- und Hirsch- und Antilopen- und Seehundsleder für alle unsere Zwecke die passenden Leder zur Verfügung, und „anatomisch gebildete Fußbekleidungskünstler“ sorgen dafür daß unser Schuhwerk genau nach dem Gipsabguß unseres lieben Füßchens gefertigt wird – oder nach dem Kopf des Anatomieschusters. Das kommt auch vor.

Fussballschuh
Tennisschuh

Für einen großen Teil unserer Schuhe ist die Maschinenarbeit zur Regel geworden, und die vielerlei Arten Schuhwerk, die heute für die einzelnen Berufe sowohl wie für die verschiedenen Thätigkeiten des Gesellschaftsmenschen gefertigt werden, sind eigentlich erst durch die Einführung des Fabrikbetriebes möglich geworden.

Schaftstiefel für Hüttenleute
Reiterstiefel (Englische Kavallerie)
Stiefel für Jäger

Fast jeder Beruf hat seinen eigenen Schuh oder Stiefel, vom Eisengießer und Steinhauer, vom Landwirt und Soldaten bis zum Barbier und Kellner.

Schuhe für Landarbeiter
Schuhe für Eisengiesser

Und daß manche Thätigkeit ohne die richtige Fußbekleidung überhaupt nicht ausgeübt werden könnte, lehrt uns gerade der Anblick jedes vielbeschäftigten Kellners. Aber noch mannigfaltiger ist das Schuhzeug des Gesellschaftsmenschen. Man braucht zwar heute nicht mehr 300 Paar stiefel zu besitzen, wie der nur darob berühmte Cinq-Mars, der Günstling Ludwigs XIII. von Frankreich, und man zieht auch nicht mehr wie damals die Stiefel naß an, damit sie recht knapp den Fuß umschließen, jedoch der sogenannte „anständige Mensch“ von heute, dem die Arbeit nichts, das Urteil über seinen Anzug alles bedeutet, kann ohne eine größere Anzahl verschiedener Schuhe und Stiefel nicht „standesgemäß“ auskommen. Geht er zur Stadt in seinen Beruf oder um einen solchen herum muß er Stiefel tragen, die höchstens vorn eine Lacklederkappe aufweisen; spielt er Tennis, wodurch man sich auch fein um Berufsarbeit schlängeln kann, so muß er in weißen Schuhen stecken; erscheint er in Gesellschaft, was auch die Berufsthätigkeit vermeiden hilft, so muß er unfehlbar in Lackstiefeln wandeln; unternimmt er einen Ausflug, oder besucht er gute Freunde Gasthäuser und Seebäder, um sich von seinen Anstrengungen Beruf zu erholen, so muß er rote oder gelbe Schuhe zu geringelten Strümpfen und umgeschlagenen Beinkleidern tragen – kurz der liebe Gesellschaftsmensch hat unendlich viele, weltbewegende Verpflichtungen in seinem Schuhwerk zu erfüllen. Das ist allezeit so gewesen. Im sechzehnten Jahrhundert sind Damen und Herren, die etwas haben gelten wollen, nur in Schuhen gegangen, deren Spitzen, mit Draht gesteift und mit Werg ausgestopft, um das Doppelte der Fußlänge vorgestanden haben.

Damenschuhe für Promenade, Radfahren und Gesellschaft

Ja man hat unter diesen eigentlichen Schuhen noch hölzerne Sohlenklappen, die Trippen, beweglich befestigt. Eine Stiege hat man mit solchem Schuhwerk nur von der Seite gehend betreten können. später ließen die Herren, als die Reiterstiefel mit herabfallendem Stulp salonfähig wurden und man den Spitzenbesatz der Unterbeinkleider öffentlich zeigen mußte, diese Canons, diese Spitzen vielmeterweise in den Stulp nähen (heute nennt der Student seinen hohen Stiefel „Kanonen“ und nicht die Spitze, die er überhaupt nur noch in Verbindung mit dem getrunkenen Stiefel kennt). Zur selben Zeit stelzten die Damen auf hohem Höckelschuh einher. Dann wieder wurde der hohe Stiefel durchaus shocking; in durchbrochenen Strümpfen und in Schuhen, deren goldene und silberne Schnallen weitabstehende Bandschleifen hielten, stolzierten Männlein und Weiblein daher. In der Wertherzeit endlich wurde der Stiefel „tiptop“, den heute unsere Reitknechte tragen, und die Damen erschienen in Schuhen mit so wenig Oberleder daß sie mit Kreuzbändern über dem Spann gehalten werden mußten, weil sie sonst wie Pantoffeln geklappert haben würden. Heute sind die Bänder weg das Oberleder ist wieder da und das Kreuz und der Pantoffel – Schluß!

Dieser Artikel von Hans Jürgen erschien zuerst am 09.08.1902 in Die Woche.