Agrarischer Existenzkampf auf dem Mars

Plauderei von Dr. Kurth.

„Agrarischer Existenzkampf auf dem Mars ? Aber, bester Doktor, das glaubt Ihnen doch niemand!“

„Wenn Sie auf dem Standpunkt beharren, es unter keinen Umständen glaublich zu finden, so ist allerdings eine Unterhaltung darüber überflüssig.“

„Im Gegenteil, Verehrtester, ich lasse mich gern belehren – nur bitte nicht zu phantastisch!“

„Sie sollen selbst darüber urteilen. Geben Sie die Bewohnbarkeit von Himmelskörpern überhaupt zu?“

„Gewiß! Ich finde es sogar arrogant, nur dieses kleine, fast überflüssige Staubkörnchen, das wir Erde nennen, für bewohnt zu halten. Im Gegenteil meine ich, daß unsere schließlich immer an unsere wenigen Sinne gebundene Phantasie gar nicht ausreicht, die Billionen von Himmelskörpern zu bevölkern.“

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„Nun gut. So werden Sie mir zugeben, daß für die Bewohnbarkeit des Mars vieles angeführt werden kann. Seine Masse entspricht zwar nur einem Zehntel unserer Erdmasse, aber seine Oberfläche hat auffallend viel Verwandtes mit der der Erde. Sie wissen, daß man auf der Marskugel Land und Wasser deutlich unterscheiden kann?“

„Wenn ich nicht irre, sieht man im Fernrohr das hellere Land rötlich und das dunklere Wasser grünlich.“

„Ganz recht! Und noch mehr: wir können deutlich die veränderlichen Schneeflecke an seinen Polen beobachten, wir können sehen, wie sich Wolken auf ihm bilden, die als Schnee herabfallen, wir können sogar Veränderungen seiner Küsten bemerken, die bei den wahrscheinlich sehr stürmischen Meeren ziemlich rasch vor sich gehen.“

Marshälfte

„Das ist mir alles bekannt, lieber Doktor. Denn Mars ist ja doch nach der schwerer zu beobachtenden Venus der nächste Körper von uns aus. Aber nun die Bewohner ?“

„Das kommt sogleich! Vicht wahr, Sie haben von den Marskanälen gehört?“

„Gewiß, ich weiß, der große Mailänder Astronom Schlaparelli hat sich um ihre Entdeckung und Bezeichnung verdient gemacht. Aber es ist mir auch bekannt, daß bei den Kanälen des Mars der Hypothesenstreit der Gelehrten beginnt.“

„So ist es. Vergegenwärtigen wir uns aber einmal schnell diese seltsamen Bildungen! Auf unserer Erde haben wir 2 3/4 mal mehr Wasser als Land, auf dem Mars dagegen ist wenigstens noch einmal soviel Land als Wasser. Nun laufen durch diese großen Festlandmassen merkwürdig gerade breite Wasserbänder, die oft hunderte von Meilen lang sind. Sie kreuzen sich oft und bilden Sterne, ja eine Marskarte gleicht fast einem Steingutteller, dessen Glasierung viele gerade Sprünge hat.“

„Und diese Bänder halten Sie für Bauten von Marsmenschen ?“

„Von Marsmenschen nicht, aber wohl von Marsbewohnern; denn wir müssen auf einem außerirdischen Körper von unserm Begriff „Menschen“ entschieden Abschied nehmen.“

„Aber sagen Sie, Herr Doktor, wie breit sind diese sogenannten Kanäle?“

„Ihre Breite schwankt zwischen 60 und 300 Kilometern.“

„Und diese fabelhaften Kolossalbauten sollen die Bewohner angelegt haben?“

„Ueber die Möglichkeit dieser Anlagen wollen wir nachher plaudern. Zunächst aber denken Sie, bitte, an folgende Phänomen: zu bestimmten Zeiten erscheinen bestimmte Kanäle verdoppelt. Nicht etwa alle, sondern nur einige! Schnurgerade Parallellinien laufen neben den alten Kanälen her und verschwinden wieder nach einiger Zeit.“

„Aber kann dies nicht eine optische Erscheinung sein? Ich erinnere mich, darüber gelesen zu haben.“

„Das hieße ein Rätsel mit einem andern Rätsel auflösen wollen! Ja, wenn alle Linien verdoppelt wären, dann könnte man allenfalls daran glauben. Aber so wäre es eine Erscheinung, die wir mit unsern Gesetzen der Optik nicht erklären können. Es ist ja viel darüber gefabelt worden, aber gestatten Sie mir, eine geniale Hypothese eines Forschers vorzutragen, die ebenso geistvoll, wie phantasievoll ist, und das Rätsel der Lösung nahe zu bringen scheint.“

„Sehr gern, Herr Doktor. Nur sind Sie mir noch den Beweis der Möglichkeit solcher Riesenbauten schuldig.“

„Gut. Ich will versuchen, Ihnen den zu geben. Setzen wir also geistbegabte Marsbewohner als vorhanden, so kann zunächst ihr Sinn für Mathematik viel bedeutender ausgebildet sein als der unsere. Denn der Mars hat zwei Monde, den Phobos und den Deimos, von denen der eine den Mars dreimal im Tage umkreist, zweimal am Tage auf- und zweimal untergeht und während dessen zweimal Vollmond und zweimal Neumond wird, also alle Phasen unseres Mondes in fabelhaft kurzer Zeit durchmacht. Der andere Mond hat ähnlich merkwürdige Eigenschaften, so daß also ein denkendes Geschöpf auf dem Mars mit Notwendigkeit auf mathematische Zeiteinteilung gewiesen wird, ja eine Taschenuhr bei diesen Monduhren gut entbehren kann. Das wäre nur ein Beweis für die Weckung des mathematischen Sinnes. Nun denken Sie sich auf diesem seltsamen Planeten ein menschenähnliches Wesen! Die Atmosphäre des Mars ist dünner als die unsrige, die große Kraft also, die wir beim Atmen aufwenden, wird teils gespart und kann sich auf andere Weise äußern. Dazu kommt, daß ja alle Gegenstände auf dem Mars viel, viel leichter sind als auf der Erde; denn ein Körper fällt dort nur 1,9 Meter in der ersten Sekunde (auf der Erde dagegen 4,9 Meter)!

Ein Theorie zu Marsbewohnern und deren Kanälen aus dem Jahr 1900.
Ein Teil des Planeten Mars nach Lowells Beobachtungen

Auch ist die Dichtigkeit des Mars nur sieben Zehntel der mittleren Dichtigkeit der Erde. Ferner sind die Jahreszeiten, die große Bauten begünstigen, bedeutend länger als die unsrigen, denn ein Marsjahr hat 687 Erdentage. Und so läßt sich noch vieles andere anführen.“

„Gut. Das leuchtet mir ein! Aber nun die Hypothese der Verdoppelung der Kanäle!“

„Die sollen Sie sogleich hören! Der Mars ist ein Bild der alternden Erde, ein Zukunftsspiegel unseres Planeten. Das Wasser versiegt dort seit Jahrtausenden oder Jahrmillionen, der Planet geht dem Stadium unseres bereits gänzlich wasserlosen Mondes entgegen. Je kleiner die versiegende Wassermasse, desto mehr muß man das Versiegen bemerken. Ein Meer scheint uns unveränderlich, ein Tropfen verschwindet vor unsern Blicken. Nun denken Sie sich, wie die Landwirte dort oben seit ungezählten Jahren bemerken, daß das Wasser mehr und mehr zurücktritt; denken Sie sich, wie die Fruchtbarkeit der Felder von Jahrhundert zu Jahrhundert abnimmt und mit ihr die Mittel zur Existenz immer geringer werden; denken Sie sich, wie sich die Mißernten häufen und die Vegetation spärlicher wird, so werden Sie leicht begreifen, weshalb die Landwirte des Mars seit ungezählten Reihen von Jahren die großen Kanalbauten über die Oberfläche ihres Planeten angelegt haben, um dem Fruchtboden die notwendige Feuchtigkeit zuzuführen. Jetzt aber sind uns auch sofort die Nebenkanäle erklärlich! Im Winter sind ihre Schleusen geschlossen. Wenn aber der Schnee an den Polen zu schmelzen beginnt und der Frühling kommt, da öffnen die Landwirte die Schleusen der Parallelkanäle, und nun füllen sich die mächtigen trockenen Adern mit frischem Wasser und speisen wieder unzählige kleine Kanäle und Gräben, und über das Fruchtgefild breitet sich spinnwebenartig ein glitzerndes Wassernetz. Nun werden die Felder urbar gemacht, nun kann die Saat sprießen und Ernte verheißen. Dieses ungeheure Kanalnetz ist nichts als eine graphische Darstellung des gewaltigen Verzweiflungskampfes eines Planetenvolkes mit seinem absterbenden Planeten, ein Abbild einer Landwirtenot, die wohl schon Jahrtausende dauert und die schließlich doch zum Untergang des ganzen Geschlechts führen muß. Mit Recht trägt daher der Stern den Namen des entsetzlichen Kriegsgottes, und seine beiden kleinen Monde Phobos, das heißt Furcht, und Deimos, das heißt Schrecken, leuchten auf ein grausiges Verhängnis herab.

So erklärt sich vieles von den fabelhaften Gebilden des rotfunkelnden Gestirns, daher ist mir diese allerdings etwas phantastische Hypothese von den vielen andern immer noch die wahrscheinlichste gewesen.“

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.