Allerlei dienstbare Geister

1905, von Viktor Ottmann. Das Geld liegt auf der Straße, und keinem Menschen lassen sich so leicht ein paar Groschen aus der Tasche eben wie dem Vergnügungsreisenden. In dieser Erkenntnis wurzeln alle die kleinen Metiers, zu deren Ausübung nichts weiter nötig ist als der Besitz rüstiger Beine, eines sicheren Blicks für Erwerbsmöglichkeiten und einer nicht zu knapp bemessenen Portion Unverfrorenheit.

Ueberall, wo es einen namhaften Fremdenverkehr gibt, stehen neben den biederen Packträgern und Dienstmännern Fremdenführer, Dolmetscher und alle möglichen Outsiders bereit, um überall zur Hand zu sein, wo man sie braucht – oder auch nicht braucht, wie das noch mehr der Fall ist.

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In dem stramm disziplinierten Verkehrsleben unserer deutschen Städte merkt man davon wenig oder nichts, aber in andern Ländern, besonders in Süditalien, Spanien und dem Orient, kann der Reisende nicht den Fuß aus dem Bahnhof oder dem Hotel setzen, ohne von einigen mehr oder minder fragwürdigen Gestalten umringt zu werden, die alle von dem lebhaften Wunsch beseelt sind, die Börse des Fremdlings zu erleichtern.

Umsonst, daß du dich blind und taub stellst oder sie barsch anfährst, sie heften sich wie Kletten an und sprechen so lange auf dich ein, bis du mürbe wirst und dir ihre lästigen Dienste gefallen läßt. Kommt es nachher zum Bezahlen, so schlägt die eben noch so demütig gewesene Haltung gewöhnlich ins Gegenteil um, und aus dem kriechenden Cicerone entpuppt sich plötzlich ein dreister Patron. Eine uralte Geschichte, die leider ewig neu bleiben wird; denn solange es Touristen gibt, wird es auch diese Blutegel des Tourismus geben.

Ein bescheidener Cicerone

Keinen von der schlimmen Sorte, sondern einen harmlosen, bescheidenen Spezialisten der Fremdenindustrie zeigt unser erstes Bild bei der Ausübung seines Berufs. Dieser Mann hält sich tagein, tagaus, bei Regen und Sonnenschein vor dem Invalidendom in Paris auf und birscht, da er etwas Englisch spricht, hauptsächlich auf englische und amerikanische Damen, um ihnen Erklärungen zu machen – aber keine Erklärung heimlich lodernder Gluten, sondern der Domfassade.

Der Interpret

Anspruchsvoller als dieser Stegreifcicerone ist der Pariser “Interpret” auf unserm zweiten Bild. Er hat dank seiner sprühenden Beredsamkeit wieder einmal ein paar Fremde ergattert und schleppt nun seine Opfer im Sturmschritt durch die Oertlichkeiten die “man gesehen haben muß”, um zu Hause als halber Pariser Eindruck zu machen. Großartig ist es, wie der Interpret sein Programm zu bewältigen weiß; er bringt es fertig, die Gemäldegalerie des Louvre in zehn Minuten “abzumachen”, und wenn seine Klienten von ihm scheiden, tun sie es in dem erhebenden Bewußtsein, daß es jetzt auf dem Gebiet der Kunst nichts Fremdes mehr für sie gibt. “Haben Sie auch den Père Lachaise gesehen ?” fragte man einmal solchen harmlosen Schnellreisenden nach seiner Rückkehr aus Paris. “Père Lachaise? Natürlich! Großartiges Lokal, dreimal rumgetanzt!” lautete die Antwort.

Italienischer Gepäckträger

In Italien, dem klassischen Land der Fremdenindustrie, stehen die kleinen Metiers des Straßenpflasters natürlich in höchster Blüte, aber es geht dabei viel weniger gemütlich zu als bei den höflichen Parisern. Von dem Augenblick an, wo der Fremde in Neapel den Bahnhof oder das Schiff verläßt und sein Gepäck vom Facchino zur Droschke bringen läßt, ist er ein Spekulationsobjekt in den Händen der auf Schritt und Tritt lungernden dienstbaren Geister.

Dienstbare Geister auf italienischen Bahnhöfen

Allerdings darf um der Gerechtigkeit willen nicht verschwiegen werden, daß in den letzten Jahren die Belästigungen sich bei weitem nicht mehr so arg fühlbar machen wie früher; die Polizei ist infolge der anhaltenden Beschwerden schärfer geworden.

In Neapel – Gepäckbeförderung vom Dampfer

Der neapolitanische Kommissionär “macht alles”, unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß er da bei keinen Tropfen Schweiß zu vergießen braucht, und daß der Fremde mindestens das Dreifache der Taxe nebst einem großen Extratrinkgeld zahlt. Sympathische Erscheinungen sind diese Söhne des Südens wirklich nicht, und selbst bei splendider Honorierung geht es selten ohne Nachforderungen und unangenehme Auftritte ab; deshalb tut man gut, ihre Dienste so wenig wie möglich in Anspruch zu nehmen.

Ein lohnender Auftrag

“Amerika, du hast es besser”, so möchte man mit Goethe auch diesmal wieder ausrufen. In Amerika braucht der Tourist keine Sorge vor unerwünschten dienstbaren Geistern zu hegen; im Gegenteil, er vermißt sie oft genug, wenn er nicht gelernt hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Nur an wenigen Orten, wie zum Beispiel an den Niagarafällen, macht sich die Fremdenindustrie bisweilen etwas lästig, sonst aber wird von Touristen überhaupt keine Notiz genommen, und nicht einmal im Hotel trägt man ihm irgendwelche Dienste an.

Neuyorker Messenger Boy und Messenger Girls

Dafür gibt es dort einen andern dienstbaren Geist, dessen Erscheinung ungemein charakteristisch für das amerikanische Straßen- und Verkehrsleben ist: den “Messenger Boy”. Ein “Knabe für alles” zwischen 13 und 18 Jahren, vereinigt er in seiner schmucken Gestalt die Obliegenheiten eines Depeschenboten, Kuriers, Rassierers, Paketträgers, Fremdenführers, Reisebegleiters, Kinderbeschützers und nicht zuletzt eines Pagen und Leibgardisten “herrenloser” Damen. In den Großstädten der Neuen Welt wimmelt es von Messenger Boys.

Außer den Telegraphenbureaus und Hotels halten eigens dafür bestimmte Institute stets eine kleine Armee von jungen Burschen zur Verfügung, um sie auf telephonischen Anruf sofort ins Haus zu schicken. Der Messenger Boy ist ein anstelliger, geweckter Junge, smart und selbstbewußt wie die ganze, frühzeitig im Erwerbsleben stehende amerikanische Jugend. So gut wie Bonapartes Soldaten den Feldmarschallstab im Tornister trugen, trägt der Messenger Boy die Ueberzeugung in sich, daß in nicht ferner Zeit etwas ordentliches aus ihm werden wird, denn seine gegenwärtige Beschäftigung betracht er nur als „start“, den ersten Satz aufs große Sprungbrett des Lebens, und sobald ihm die adrette Uniform zu knapp wird, geht er zu einem andern Fach über. Sein Beruf ist eine vortreffliche Schule für die amerikanische Lebenspraxis, er führt ihn mit allen möglichen Menschen aller Klassen zusammen, lehrt ihn, sie zu nehmen, wie sie genommen sein wollen, läßt einen scharfen Beobachter und kleinen Diplomaten aus ihm werden. “Unsere Jungen”, so sprach der Leiter eines Messenger Boy Instituts, „haben die beste Aussicht auf eine erfolgreiche Laufbahn. Entweder werden sie tüchtige Geschäftsleute oder große Taugenichtse und Bauernfänger. Glücklicherweise entscheiden sie sich meistens für das erstere, – denn unter hundert sind neunzig ehrlich, verläßlich und strebsam. Andrew Carnegie war Messenger Boy, Robert Pitcairn, einer unserer führenden Eisenbahnmänner, desgleichen, und dutzendweise lassen sich andere hervorragende Bürger aufzählen, die als junge Burschen den Ausläufer spielten. Auch für das Detektivfach stellen sie vorzüglich vorbereitete Kräfte.”

Der Messenger Boy beim Shopping

Unsere Bilder zeigen den Messenger Boy in verschiedenen Rollen seines Fachs. Wir sehen da einen Depeschenboten in Gesellschaft zweier Kolleginnen, denn auch Messenger Girls gibt es, und zwar, wie unser Bild beweist, mitunter recht nette. Auf einem andern Bild sehen wir, wie er eine Dame beim “Shopping”gehen begleitet. Zweifellos wird er noch mehr Pakete zu tragen bekommen, denn die Amerikanerin kauft gern mehr, als ihrem Herrn Gemahl lieb ist, aber die “Herren des Hauses” (man muß das Wort schon mit ironischen Gänsefüßchen umkränzen) sind dort drüben viel zu bequeme und gut gezogene Ehemänner, um laut zu brummen. In einem ganz eigenartigen Rollenfach zeigt sich der Messenger Boy auf dem untenst. Bild. Die Dame will ins Theater oder Konzert gehen, der Gemahl ist aber gerade verhindert, sie zu begleiten und wieder abzuholen, und einem weiblichen Dienstboten dürfte man nicht mit derartigen “Zumutungen” kommen, denn diese holden Geschöpfe besitzen dort einen höchst kitzligen point d’honneur. Was tun? Sehr einfach. Man bestellt einen Messenger Boy, und in ein paar Minuten steht er da, um taktvoll den kleinen Kavalier zu spielen. In ähnlicher Weise dient er den Damen als Begleiter beim Spazierengehen.

Auf dem Wege zum Theater

Wenn er sich dabei unmittelbar neben das lesende Fräulein seht und ebenfalls seine Zeitung vornimmt, so ist das echt amerikanisch.

Der Messengerboy als Kindermädchen

Zu guter Letzt lernen wir den Messenger Boy auch noch als treuen Eckehart der Kleinen kennen (Abb. nebenst.). Gouvernanten oder auch nur Kindermädchen sind für den bescheideneren Hausstand in Amerika zu teuer, unbeaufsichtigt aber sollen die Kinder im Getriebe der Großstadt mit ihrer Fülle zweifelhafter Existenzen nicht sein, deshalb wird einfach ein Messenger Boy stundenweise gemietet, und der junge Bursche ist sich seiner Verantwortlichkeit als Hüter der Kleinen wohl bewußt.

Der weiße Stiefelputzer auf der Straße in Neuyork

Das Stiefelputzbild führt uns ebenfalls nach Amerika und zeigt den “erstklassigen” weißen Putzer bei der Ausübung seiner schwarzen Kunst. Da sich kein amerikanischer Dienstbote herabläßt, Stiefel zu putzen, so ist man auf diese Spezialisten der Straße angewiesen, wofern man nicht genug Lust, Geduld und Mangel an falscher Scham hat, die Regel “Bediene dich selbst” auch nach dieser Richtung hin zu befolgen.

Dieser Artikel erschien erstmals 1905 in Die Woche.