Am Suezkanal

Die kriegerischen Ereignisse im Osten, die Fahrt der verschiedenen russischen Geschwader und mancherlei damit verknüpfte Fragen politisch-strategischer Art haben wieder in verstärktem Maß die Aufmerksamkeit auf die berühmteste aller künstlichen Wasserstraßen gelenkt, den Suezkanal.

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Aber schon seit Jahren bildet der schmale Silberstreifen im gelben Wüstensand in den Kreisen der Politik, Schiffahrt und Hochfinanz den Gegenstand schwerwiegender Erwägungen, und es scheint neuerdings, als ob man ernstlich daran dächte, die Suezkanalfrage im vollen Umfang “aufzurollen“ und den Bau eines Konkurrenzkanals vorzubereiten. Diese Bewegung geht hauptsächlich von England als dem in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht am meisten daran interessierten Staat aus und wurzelt in den Tatsachen, daß der Kanal den enorm gesteigerten Verkehrsansprüchen von Jahr zu Jahr weniger genügt, daß die überreichen Einnahmen der Kanalgesellschaft zum Wettbewerb herausfordern, und daß England den frommen Wunsch hegt, einen ausschließlich britischen Suezkanal zu besitzen. Ob letztgenannter Programmpunkt die nichtbritischen Politiker besonders entzückt, mag dahingestellt bleiben.

Gebäude der Generaldirektion in Ismalia

Wohl nur ein verschwindend geringer Bruchteil der 2 – 300 000 Passagiere, die jährlich am Standbild des Herrn von Lesseps vorbeifahren, denkt an diese Probleme; für die überwiegende Mehrheit bedeutet der Kanal nichts als ein mit Spannung erwartetes Schauspiel, und sein Hauptort Port Said ist eine Oase in der Wüstenei der Seefahrt.

Port Said vom Hafen aus gesehen

Die von Europa anlangenden Reisenden empfinden die Sehnsucht nach etwas festem Boden unter den Füßen zwar noch nicht so stark, da sie zumeist erst seit einigen Tagen an Bord weilen, aber die in umgekehrter Richtung aus Ostasien und Australien Kommenden sind im höchsten Grad “landgängerisch”, wie der Seemann sagt. Port Said schätzt es sich zur Ehre und zum Vorteil, solchen berechtigten Trieben Vorschub zu leisten, und da ein “landgängerischer” Passagier sich gewöhnlich in einer Stimmung befindet, in der er allen Schwiegermüttern und Schneidern der Welt zu verzeihen geneigt ist, faßt er die Zudringlichkeiten und Prellereien der ehrenwerten Port Saider von der humoristischen Seite auf. Jedenfalls das Vernünftigste, was ein Reisender im Orient tun kann, denn es gibt da keine unnützere Ueberfracht als die ewige Entrüstung.

Generalansicht des Suezkanals

In Port Said beginnt das großartige Kanalwerk, und hier trotzt der eherne Lesseps der unbarmherzigen Sonnenglut. Gleichviel, ob noch so sehr gescholten und zum bitteren Lebensende in die Schlammfluten des Panamakanals gezerrt, er war doch einer von den großen Menschheitspionieren. Port Said hat trotz seines außerordentlichen geschäftlichen Aufschwungs wenig zu bieten, was eines Weltverkehrsplatzes ersten Ranges würdig wäre; die dürftigen Holzbauten scheinen nur für heute und morgen bestimmt zu sein, und in den Straßen wechseln zweifelhafte Kuriositätenläden mit mehr oder minder fragwürdigen Kneipen ab. Den feineren Mittelpunkt des öffentlichen Lebens bildet der Lessepsplatz (Abb.).

In Port Said – Der Lessepsplatz

Einen weit angenehmeren Eindruck als Port Said macht das Städtchen Ismailia, das dort liegt, wo der Kanal den Timsasee durchzieht. Ismailia wird neuerdings als Eintrittspunkt für Kairo bevorzugt, es ist der Generaldirektionssitz der Kanalgesellschaft (Abb.) und besitzt einige schöne Straßenzüge, wie die Viktoria Avenue (Abb.).

Die Avenue Victoria in Ismalia

Hinter Ismailia durchbricht der Kanal die öde Felsenlandschaft des Serapeums und führt dann durch die großen Bitterseen, die ihr Entstehen erst dem Kanalbau verdanken. Der Ausgangspunkt am Roten Meer, Suez, hat neben Port Said immer mehr an Bedeutung eingebüßt. Hier findet die ärztliche Untersuchung der aus dem Süden kommenden Passagiere statt, und unsere obenstehene Abbildung, die Quarantänestation, ruft vielleicht bei manchen Lesern sehr wenig angenehme Empfindungen wach.

Blick auf die Quarantänestation

Es gibt wenig Landstrecken auf der Welt, die eine solche Fülle von Eindrücken und Vorstellungen auslösen wie der sterile Wüstenstreifen zwischen Port Said und Suez. Seit grauen Zeiten die Menschheitsfurt zwischen Asien und Afrika, jetzt ein Konzentrationspunkt des Weltverkehrs, bietet diese Landenge das Bild von Gegensätzen schroffster Art, Gegensätzen zwischen äußerstem Raffinement und schlichtester Einfachheit, zwischen der gewaltigen Ruhe der Wüstenstimmung und dem verwickelten Getriebe des modernen Verkehrslebens. Und da der Reisezauber seinen stärksten Magnet im Widerspiel der Kontraste besitzt, wird der Suezkanal stets einen Glanzpunkt der Touristik bedeuten.

Fahrt durch den Kanal

Dieser Artikel von Viktor Ottmann erschien zuerst 1905 in Die Woche.