Arbeiterausstände

Von den großen Arbeiterausständen, mit denen sich neuerdings die öffentliche Meinung eingehend beschäftigt hat, ist am schnellsten der Generalstreik in Genf beendet worden.

Kaum proklamiert, wurde er schon wieder aufgehoben, da die Arbeiter sich überzeugten, daß sie gegenüber dem entschiedenen Eingreifen der Behörden nichts würden ausrichten können.

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Leider ist die Ruhe nicht hergestellt worden, ohne daß es zu blutigen Zusammenstößen mit den aufgebotenen Truppen gekommen wäre. Ganz anders hat sich die Bewegung in Frankreich entwickelt, sie breitet sich immer mehr aus und greift sogar auf belgisches Gebiet über, doch wurden bisher ernstere Ruhestörungen glücklich vermieden. In Amerika schließlich bietet sich erfreulicherweise einige Aussicht auf gütige Beilegung des Kohlenarbeiterstreiks. Die fortgesetzten, auf Versöhnung der Gegensätze gerichteten Bemühungen des Präsidenten Roosevelt haben wenigstens insoweit ein Ergebnis gehabt, als sich die Grubenbesitzer neuerdings mit der Einsetzung einer Kommission zur Prüfung ihrer Differenzen mit den Arbeitern unter gewissen Bedingungen einverstanden erklärt haben.

Vom Ausstand der französichen Grubenarbeiter. Das Nationalkomitee des Bergarbeiterverbandes während der Sitzung vom 8. Oktober, in der der Generalausstand beschlossen wurde
Zur Kohlennot in Amerika. John Mitchell, der Präsident der Kohlenarbeitervereinigung in den Vereinigten Staaten

Dieser Artikel erschienen zuerst am 11.10.1902 in Die Woche.

Die großen Grubenarbeiterausstände in Frankreich und Amerika dauern fort, es dürfte daher von Interesse sein, die Führer der Bewegung hier wie dort kennen zu lernen. Während in Frankreich das Nationalkomitee des Bergarbeiterverbandes, das in seiner Sitzung vom 8. Oktober den Generalstreik beschlossen hat, als Gesamtheit auftritt, laufen in Amerika alle Fäden in der Hand eines Mannes zusammen. John Mitchell, der Präsident der Kohlenarbeitervereinigung in Pennsylvanien, der das Vertrauen seiner Genossen in höchstem Maß besitzt, erscheint als ihr berufener Vertreter, mit dem auch die Verhandlungen über die Beilegung des Streiks geführt worden sind.

Dieser Artikel erschienen zuerst am 11.10.1902 in Die Woche.

Der Bergarbeiterausstand in Frankreich hat die französische Industrie in schwerer Weise geschädigt. Ganz abgesehn aber von der wirtschaftlichen Seite dieser großen Ausstandsbewegung ist es auch zu erheblichen Störungen der öffentlichen Ruhe und Ordnung, sogar zum Blutvergießen gekommen. Militär und Gendarmerie mußten wiederholt einschreiten, weil die Streikenden die Arbeitswilligen mit allen Mitteln von ihrer Thätigkeit zurückhalten wollten. Die Stimmung der Ausständigen wurde hierdurch natürlich keineswegs gemildert, und trotz der Mahnungen zur Mäßigung, die von dem Streikkomitee in Paris erlassen wurden, drohte sich der Ausstand auf belgisches Gebiet ausdehnen zu wollen. Die belgischen Bergarbeiter waren indessen kaltblütig genug, sich nicht ohne weiteres hinreißen zu lassen, sie haben vorläufig ihre Forderungen mit Bezug auf Lohnerhöhungen und Verkürzung der Arbeitszeit den Arbeitgebern schriftlich unterbreitet. Der französische Bergarbeiterausstand war auch Gegenstand der Verhandlungen in der Deputiertenkammer. Von der linken Seite des Hauses wurde die Haltung des Militärs und der Gendarmerie in heftigster Weise angegriffen, man verlangte sogar, daß überhaupt ein Verbot der Entsendung regulären Militärs in ausständische Gebiete erlassen werde. Es gewinnt übrigens den Anschein, als ob der Streik in kurzer Zeit beigelegt werden würde. – Von sonstigen politischen Ereignissen in Frankreich verdient die Interpellationsdebatte über die Schließung der Kongreganistenschulen Erwähnung, bei der die Regierung mit 329 gegen 233 Stimmen den Sieg davontrug. In der Diskussion wurde die Rede des Abgeordneten Jonnart, des früheren Generalgouverneurs von Algerien, besonders bemerkt; seine kluge, der Regierung freundlich gesinnte, aber nicht überall zustimmende Haltung machte großen Eindruck.

Dieser Artikel erschienen zuerst am 18.10.1902 in Die Woche.

Wanderungen durch das große nordfranzösische Streikgebiet des Pas-de Calais scheinen dem Fernstehenden bei den mannigfachen Unruhen und immer neuen Verwicklungen der Schlichtungsversuche gefährlich für Körper und Leben. Aber wer dorthin kommt und mit offenen Sinnen durch das „schwarze Land“, das teils der Kohle, teils der streng klerikalen Gesinnung wegen so genannt wird, durch die einförmige Landschaft von Lens und durch die freundlicheren Gegenden von Anzin und Valenciennes schreitet, wird trotz aller Aufmerksamkeit nicht allzuviel von dem Generalstreik und seinen Folgen merken. Die Führer der großen Bewegung haben das Verdienst, ihre Gefolgschaft immer wieder zur Ruhe und zur Besonnenheit gemahnt zu haben, und sie haben mit ihren Arbeitern die Befriedigung, daß allenthalben die bedauerlichen Zusammenrottungen und Zusammenstöße mit dem Militär nur den schlechten, einen kleinsten Teil der Arbeiterschaft darstellenden Elementen zugeschrieben werden. So sieht man auf den Bahnhöfen und längs der Bahndämme starke militärische Besatzungen, man begegnet ab und zu einem Detachement berittener Jäger oder einer Schwadron Kürassiere, die das Land durchstreifen und nach der Ordnung sehen, aber sonst – abgesehen von den wenigen ernsten Ereignissen – ist Stille und Frieden ringsum, und die 20 000 streikenden Arbeiter harren in Ruhe, beinah in Phlegma der Entscheidung über die strittige Lohnfrage. Unter den mannigfachen Führern, die in dieser Bewegung besonders hervorgetreten sind, ist neben dem sozialistischen Maire von Lens, dem Deputierten und einstigen Kohlenminenarbeiter Basly, der ehemalige Sergeant und jetzige Sekretär des Bergmannssyndikats von Anzin, Bexant, den wir in nebenstehender Abbildung bringen, der einflußreichste und bedeutendste. Er war es, der sämtliche zunächst unschlüssigen Arbeiter des großen Kohlenbeckens von Anzin bewog, mit den Arbeitern der Bergwerksortschaften des Pas-de-Calais und Nordbezirks in den Ausstand zu treten. Er predigte und agitierte unablässig in den „Corons“, den großen Bergarbeiterdörfern, in denen sich in allen Bezirken die Bergleute dicht gedrängt Haus an Haus angesiedelt haben. Die Corons, die durchweg von arbeitsamen, nüchternen und ziemlich wohlhabenden Besitzern zeugen, sind so trotz ihrer äußerlich häßlichen Form ein freundliches Zeichen vom Fleiß dieses Volkes und vom Segen der Arbeit.

Ein grosses Bergarbeiterdorf
Bexant, Sekretär des Bergmannsyndikats von Anzin
Kürassierpatroullien im französichen Streikgebiet

Dieser Artikel erschienen zuerst am 15.11.1902 in Die Woche.