Ein sehr ungewohntes Bild boten in den Tagen vom 9. bis 21. Mai die großen Verkehrsstraßen von Berlin. Wo sonst Wagen auf Wagen der Straßenbahn, teils von Pferden gezogen, teils von elektrischer Kraft getrieben, in Pausen von Sekunden aufeinanderfolgten, sah man weite Strecken hin fast leer; wo die Reibung der Räder mit den Schienen und das unaufhörliche Geklingel der Warnungsglocken ein schier ohrenbetäubendes Getöse verursachten, herrschte fast völlige Ruhe.
Das Geschäft der Droschkenkutscher blühte, denn wer eilig vorwärtskommen mußte, war auf sie angewiesen. Hin und wieder rollten noch Straßenbahnwagen heran, aber sie waren zum großen Teil leer.
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Das große Publikum empfand offenbar eine gewisse Schadenfreude über die Schwierigkeiten, die der Großen Berliner Straßenbahnsellchaft, der „Großen Berliner“, wie sie kurzweg genannt wird, wuchsen. Selten haben sich seine Sympathien in gleichem Maß ausständigen Arbeitern zugewandt. Denn, ob mit Recht oder Unrecht, das große Publikum ist thatsächlich der Meinung, daß die Gtoße Berliner schon oft auch seine berechtigten Wünsche unerfüllt gelassen hat, und so kommt es unwillkürlich zu der Auffassung, die von der Gesellschaft abgewiesenen Forderungen der Angestellten möchten auch nicht unberechtigt sein.
Das Schlimme nur, daß das mittelbar ja in Mitleidenschaft gezogene Publikum sich nicht darauf beschränkte, in einer den Ausständigen wohlwollenden Neutralität zu verharren sondern daß sein Wohlwollen es mitunter zu einem Bruch der Neutralität verführte. Zuerst hatte die Sache, so ernst sie vom Standpunkt der Ordnung auch gleich anfangs war, noch einen Anstrich von Humor.
Man brachte die im Betrieb verbliebenen Wagen durch Umstellen der Weichen in eine falsche Fahrtrichtung, oder man spannte die Pferde aus und hob einen Wagen aus den Schienen. So schaffte man den „Arbeitswilligen“ Arbeit, die sie nur unwillig thaten, denn es verursachte ihnen die größten Mühen, die Wagen wieder ins rechte Geleis zu bringen. Dann kam es aber zu Häkeleien. die am Sonntag (20. Mai) bedauerlicherweise schließlich in arge Schlägereien ausarten; der Janhagel fand sich ein und verursachte die größten Exzesse, die das Einschreiten der Polizei notwendig machten. Gleich am Sonnabend, dem ersten Tag des Ausstandes, gab es blutige Köpfe, schon am folgenden Sonntag aber in der Nähe des Rosenthaler Thors gefährliche Verwundungen und bei den Straßentumulten, die namentlich an den Kreuzungspunkten und in der Nähe der Bahnhöfe entstanden, mußten weit über 100 Verhaftungen vorgenommen werden.
Gute Freunde der Ausständigen waren es jedenfalls nicht, die diese Ausschreitungen begingen, denn sie konnten den Streikenden, die sich nach allgemeinem Urteil durchaus ruhig verhielten, dadurch nur schaden. Glücklicherweise ist der große Ausstand, der in das gesamte Berliner Verkehrsleben so tief eingriff, schon nach wenigen Tagen durch den zum Schiedsrichter angerufenen Oberbürgermeister Kirschner friedlich beigelegt worden.
Dieser Artikel wurde zuerst 1900 in Die Woche unter „Bilder vom Tage“ veröffentlicht.