Nachdem in der politisch thatenlosen Zeit zu Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine von Friedrich Wilhelm IV. nach Aegypten entsandte Expedition dem preußischen Namen hohe Ehre erworben halte, war es der deutschen Wissenschaft nicht wieder vergönnt worden, sich selbst auf ägyptischem Boden an der Erforschung der alten Ruinenstätten zu beteiligen; sie hatte sich darauf beschränken müssen, die von den Vertretern anderer Nationen zu Tage geförderten Schätze daheim in der Studierstube zu verarbeiten.
Erst vor kurzem ist Deutschland wieder mit Hacke und Spaten in Aegypten erschienen. In den Jahren 1899-1901 ist durch das Berliner Museum ein Sonnenheiligtum aus der Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. freigelegt worden, und im letzten Winter hat die unter dem Protektorat des Deutschen Kaisers stehende Orientgesellschaft, die bis dahin alle ihre Kräfte mit großem Erfolg der Erforschung des alten Babylon gewidmet hatte, ihre Thätigkeit auch auf das Nilthal ausgedehnt.
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Schon die erwähnte preußische Expedition hatte die Pyramiden bei Kairo und die weiten, umliegenden Gräberfelder eingehend untersucht. Man wußte, daß unter den gewaltigen Steinmassen der Pyramiden sich nur eine Kammer für den Sarg des Pharao befand, daß aber zu jeder Pyramide noch ein kleines Heiligtum gehörte, das dem Kultus des verstorbenen Herrschers geweiht war. Von diesen Totentempeln war aber keiner erforscht worden, so wichtig auch die Kenntnis einer solchen Anlage für die Wissenschaft sein mochte. Erst jetzt ist diese Untersuchung durch die deutsche Orientgesellschaft unter der fachmännischen Leitung des Regierungsbaumeisters Dr. Borchardt begonnen worden. Zwei Stunden südlich von den Gisepyramiden liegt die Nekropole von Abusir und in ihr, neben andern Pyramiden, auch die des historisch nur wenig bekannten Pharao Ne-woser-re (um 2500 v. Chr.) und die versandeten Trümmer seines Totentempels. Hier wurde die Grabung begonnen, und im Verlauf von vier Monaten ist ein großer Teil des freilich arg zerstörten Heiligtums freigelegt worden. Klar liegt sein Grundriß jetzt vor unsern Augen. Wir haben die von den alten Architekten hier verwendeten Kunstformen kennen gelernt; es sind zu unserer großen Ueberraschung dieselben, die uns schon aus den Tempeln der späteren Zeit vertraut waren; die Papyrusbündel nachahmenden Säulen, die den Haupthof zierten, die Darstellungen des Königs, der Götter, der Opfer auf den künstlerisch ausgeführten Wandreliefs. Ein Heiligtum des dritten Jahrtausends v. Chr. sah in der Hauptsache schon ähnlich aus wie ein ägyptischer Tempel aus der Zeit Alexanders des Großen oder des Augustus; das ist eine der wichtigsten Lehren, die die Abusirgrabung uns giebt. –
In der Umgebung des Tempels wurden noch wichtige Gräber aus allen Zeiten der ägyptischen Geschichte aufgedeckt, die sehr wertvolle Funde geliefert haben. So legte man ein altes Ziegelgrab frei und in ihm eine Gruppe aus Granit, den Besitzer des Grabes und seine Frau darstellend (s. Abb.), ferner ein Familiengrab von Priestern aus der Feit um 2100 v. Chr., ein anderes Priestergrab derselben Zeit mit seiner noch völlig erhaltenen Ausrüstung, den Särgen, den kleinen Papyrusbooten, die den Verstorbenen über die himmlischen Gewässer führen, der Küche und dem Speicher, die für seine Nahrung sorgen sollten u. a. m.
Neben einer Leiche aus griechischer Zeit wurde ein auf Papyrus geschriebenes Buch entdeckt, das eine poetische Verherrlichung der Perserkriege aus der Feder eines im Altertum hochberühmten Dichters Timotheos enthält. Die Mehrzahl dieser Funde ist nach Deutschland gelangt; sie waren im Berliner Museum ausgestellt und sollen nunmehr an verschiedene deutsche Sammlungen verteilt werden. Die Ausgrabung des Totentempels des Pharao Ne-woser-re wird in diesen Winter fortgesetzt; möge sie ebenso reiche Funde bringen wie die Kampagne, auf die die deutsche Orientgesellschaft mit rechtem Stolze zurückblicken darf.
Dieser Artikel von Prof. Georg Steindorff erschien zuerst in Die Woche 48/1902.