Auf der Jahrmarktsmesse von Nishnij-Nowgorod

Ein gewaltiges, alle Gedanken und Vorstellungen, wie sie im Kopf eines einigermaßen entwickelten Westeuropäers zu wohnen pflegen, völlig verwischendes und mit dem, Getöse und der Wirrnis ungeahnter Sonderbarkeiten an Bildern, Lauten, Vorgängen, Bewegungen und Gerüchen übertäubendes Lebensbild!

Die Messe von Nishnij-Nowgorod, ein Samel- und Kulminationspunkt russisch-asiatischer Kultur auf den Gebieten des Handels der Industrie und Manufaktur, der größte Innenmarkt des größten der Kontinentalreiche! Und wahrlich, man rettet sich aus den Warenbergen, den gewaltigen Stapelhaufen von Fellen, Eisen, Rauchwerk, Thee, billigen Manufakturerzeugnissen in Blech und Holz und all dem vielen andern, das um der schlecht entwickelten Kredit- und Kommunikationsverhältnisse Rußlands willen in corpore und nicht etwa als Probe angeführt und zum Verkauf angeboten ist – aus dem Gewühl und Geschrei der Käufer, Verkäufer, Bettler, Meßbummler, Hausierer, und was da sonst an sonderbaren eifrigen Gestalten durcheinanderhaspelt, mit dem Gefühl der Ohnmacht, das man wirklich großen Eindrücken gegenüber hat, die sich nicht so ohne weiteres voraussetzungslos einschalten und verarbeiten lassen.

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Es ist nicht so sehr die Größe des Jahrmarkts selbst, nicht die Hetze und gewaltige Unruhe des Getriebes, auch nicht das ausgesprochen Fremdländische, die das hervorrufen, vielmehr der Umstand, daß jeder und alles von dem vielen bisher nicht Gesehenen und Ungewohnten sich nicht als Schaustück in Ruhe, sondern in ernsthafter, zweckmäßiger Bethätigung mit der ganzen unverfälschten Unmittelbarkeit des Lebens präsentiert. Und zwar wird alles mit ungeheurer Greifbarkeit lebendig, ohne daß man sofort Beziehungen zum Gewohnten schaffen, ohne daß man auch nur beim Beobachten recht zusammenfassen, sich Typen herausgreifen könnte: jedes Einzelne scheint typisch, jeder Einzelne scheint Typus und nimmt für sich Interesse und Beobachtung in Anspruch, weil gar nichts, abgesehen von den zugereisten Weltreisenden und Großkaufleuten, auch nur im geringsten an westeuropäische Messebilder erinnert. Es ist Asien, das man vor Augen hat, eins der größten russisch-asiatischen Kulturbilder, und man mag vor dem Riesen so mancherlei Respekt haben sieht man ihn bei seinen häuslichen Verrichtungen, so große Allgemeinbedeutung sie auch haben mögen, wie etwa diese Messe, so erscheint das sich unmittelbar äußernde Leben, vom abgefetzten Pelzhändler bis zum goldbehängten „Sibiriaken“ ziemlich fremd und unkulturell, wenn auch interessant, zumal es nicht kraftlos ist.

Der Glockenmarkt

Es ist ja unleugbar etwas Großes an dieser Messe. Auf der Halbinsel Strjälka, an der die Wasser der Wolga und Oka zusammenfließen und die samt dem ganzen Messeplatz zur Zeit der Frühlingsüberschwemmung des „Wessenij rasliw“ regelmäßig weithin überschwemmt ist, baut sich alle Jahr in kurzer Zeit ein gewaltiger Markt mit fast 10 000 Lãden auf, zu dem eine Schar von fast einer halben Million Kaufleute zusammen strömt, um Waren zu verkaufen oder zu kaufen, die von ringsher auf Strecken von vielen tausend Kilometern mit von Menschen, den „Burlaki“, gezogenen Booten, mit Kamelen, zu Pferd und zu Wagen, bloß zu einem geringen Teil mit Eisenbahn oder Dampfboot zusammengeführt sind und die, obwohl meist Rohmaterial in Eisen, Fell, Baumwolle u. s. w., die Riesensumme von einer halben Milliarde Mark repräsentieren. Dabei ist zu bemerken, daß es kaum einen Gegenstand giebt, der nicht von Osten oder von Westen herangeführt würde und in Nishnij-Nowgorod seinen Abnehmer fände, angefangen von den an kleiner Schnur aufgereihten Pfifferlingen des Bäuerlein-, der Fuhre Stroh bis zu den sich zu hohen Bergen türmenden Theeballen, vom neusten Pariser Modeartikel bis zu Millionen und Abermillionen roher Felle aus Sibirien; nichts ist zu fein, nichts zu gemein, hier geht’s von Hand zu Hand und weiter in das Reich hinein.

Gesamtansicht von Nishnij-Nowgorod

Nun spricht ja kaum etwas so deutlich vom Mangel russischer Innenmärkte und dem niedrigen Stand des russischen Handels, wie der Zufuhrwege als gerade dieses Zusammenströmen des Angebots an einem Punkt aus all den weiten Teilen des Riesenreichs, wobei die Waren mitgeführt werden, selbst auf die Gefahr hin, sie als unverkauft bis zur nächsten Messe deponieren oder zurücktransportieren zu müssen, aber gerade diesem Umstand hat man auch das Schauspiel eines solchen Riesenmarkts und den wunderbar zusammenfassenden Ueberblick über die Produktion des russischen Reichs zu danken. Und wenn diese Revue auch ein trauriges Licht auf den Stand der russischen Industrie wirft – man findet wohl kaum sonstwo in der Welt so schmählich nachlässig gearbeitete Industrieerzeugnisse, die den verachtungsvollen Namen Fabrikware verdienten, wie in Rußland – so sieht man in der Manufaktur, besonders Holz und Messing, gute, wenngleich mit unglaublichen Aufwand an Zeit und Menschenkraft gelieferte Arbeit und das von Rußland hervorgebrachte Rohmaterial flößt geradezu ehrfurchtsvolle Scheu vor der Kraft und dem Reichtum des Landes ein.

Das grosse Theelager

Freilich mildert sich die Verblüffung, wenn man die Dimensionen des Landes in Betracht zieht. Imposant wirken die Bilder der aufgestapelten Warenmassen jedenfalls im höchsten Grade. Unsere Bilder, die die Messe in den letzten Tagen vor der diesjährigen Eröffnung zeigen, demonstrieren die Anfuhr der Waren und können darum so recht ein Bild von den Massen des Angeführten geben. Die Perser, die ihre Kaufniederlage in der sogenannten „Karawanserei“ (wörtlich: Karawanenlager) haben, alles schwerreiche Großkaufleute, waren dort eingetroffen, wenngleich ihre Waren, die schönsten Teppiche, Rosinen, getrocknete Pfirsiche, die der russische Bauer „Schleptalá“ nennt, Nüsse, Waffen und andere Erzeugnisse des Orients erst zum Teil ausgepackt waren.

Blick vom Kreml auf die Stadt

Es wird viel Tauschhandel getrieben, wobei die Perser, listiger als die Juden, ja selbst als die Griechen, die Russen sehr über das Ohr hauen sollen. Als die Perser photographiert wurden, erbat sich’s ein russisches Bäuerlein, das mit Pilzen handelte, einer der Hauptnahrungen des Bauern im Norden während der Wintermonate, auch dabei sein zu dürfen, mit der Motivierung, er habe einen kranken Fuß, und die „Agrafia“ könne ihn vielleicht gesund machen. Der Glaube macht ja nun freilich nicht nur selig, sondern auch gesund. Vielleicht, daß ihm das Photographiert werden geholfen hat. Der bäuerliche Hausierer ist eine typische Erscheinung; er bildet zugleich mit seinem Kopekenhandel einen wunderbaren Kontrast zu dem Millionen umsetzenden Perser.

Die Alexander Newskistrasse für Eisenwaren

Beide versinnbildlichen so die Gegensätze von Nord und Süd, West und Ost in Rasse, Sitte und Kleidung, Energie und Schlafmützigkeit, Klugheit und Unvernunft, Frömmigkeit und Laster. Vor unsern Augen entfaltet sich ein buntes und bewegtes Lebensbild, das um so wüster wird, aber auch um so präziser die Eigenart eines jeden Moments zur Schau bringt, als es sich in der Hitze des Kampfes um den Vorteil zeigt.

Strasse längs des sibirischen Landungsplatzes

So tobt es alle Jahre auf der sandigen Strjälka vom 28. Juli bis zum 23. September, am hitzigsten um die Mitte August, da bis zum 7. September alle Wechsel beglichen sein müssen, eins der interessantesten ethnologischen Schaustücke, zugleich wohl auch das großartigste und bunteste Bild aus dem Gebiet des Handels.

Eine Gruppe Perser
Stapelplatz für Felle

Alle Frühjahr aber, wenn die Flüsse sich weiten und die großen Wasser kommen, wogt es am selben Platz auch oft in heftiger, schäumender Brandung. Die grünlichen Wasser der Oka kämpfen mit den gelblichen der Wolga – nicht um Vorteil und Gewinn, sondern den Kampf der großen Naturmassen, den zerstörenden; und dem Beschauer vom hohen Kreml, der auf den Hügeln Nishnij- Nowgorods gelegen, das Land weithin übertürmt, wird schwül zu Sinn, denn er denkt der Tage in näherer oder fernerer Zukunft, an denen andere Naturmassen im Kampf liegen werden und auch niemand wissen wird, wem alle diese Kämpfe Nutzen oder schaden, Glück oder Unglück bringen.

Dieser Artikel von P. S. v. Kügelgen erschien zuerst am 20.09.1902 in Die Woche, dazu 8 (nachkolorierte) photographische Aufnahmen von Funck.