„Mütterchen Moskau“, die altehrwürdige Zarenstadt, steht bei allen Haupt- und Staatsaktionen Rußlands im Mittelpunkt des nationalen Interesses. So bei der letzten Krönung, wo der junge Zar zum erstenmal in nähere Berührung mit dem altrussischen Volk kam; so jetzt beim eben vergangenen Osterfest, das die junge Zariza zum erstenmal in der Mitte ihres altrussischen Volkes erlebt.
Ist Petersburg auch die Residenzstadt des russischen Selbstherrschers die wirkliche Hauptstadt des Landes, das „Herz und die Seeles des Volkes, wie es von altersher im Volksmund genannt wird, bleibt das heilige Moskau. Liegt es doch auch der großen Interessensphäre des russisches Reiches in Asien so viel näher als die Residenzstadt an der Newa.
Umgeben von dem gesamten glänzenden Hofstaat hatte die Zarenfamilie in der Charwoche ihren Einzug in die heilige Stadt gehalten und im Kreml, dem Kapitol Moskaus, Wohnung genommen.
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Der Kreml ist nicht nur das Krönungsschloß der Zaren, sondern bildet mit seinen zahlreichen Kirchen, Klöstern und Kasernen einen ganzen Stadtteil für sich. Hier gipfeln die heiligen Reminiscenzen einer glorreichen Vergangenheit, hier werden kirchliche Reliquien aufbewahrt, zu denen jährlich Tausende wallfahren, Heilung und Trost zu suchen. Hat doch hier die „gnadenreiche heilige Mutter von Kasan“ dereinst ihr Wunder gewirkt!
Eine zwei Kilometer weite, zwanzig Meter hohe, zinngekrönte Mauer mit vielen luftigen, schlanken Türmen umschließt den Kreml, zu dem fünf Thore führen, jedes einzelne merkwürdig durch seinen originellen Baustil, jedes einzelne berühmt durch die Erinnerungen, die sich daran knüpfen. Das wichtigste Thor ist die Spaskija Worota (das Erlöserthor); hier ist das Heiligenbild des Erlösers von Smolensk angebracht, vor dem selbst jeder Fremde das Haupt entblößen muß.
Im Innern des Kreml reiht sich Kirche an Kirche, ein Staatsgebäude an das andere. Die bemerkenswertesten sind die Krönungskathedrale „Uspenskij Sobor“, die im Jahr 1326 vollständig aus Holz erbaut worden ist. In der Zeit von 1475-79 wurde sie von neuem in Stein ausgeführt, ihr Baustil ist halb byzantinisch, halb tatarisch. Dieser Kathedrale gegenüber liegt die Archangelskijkathedrale, die Gruftkirche der Zaren aus dem Haus Rurik und der Romanows vor Peter dem Großen. Auf dem höchsten Punkt des Kreml steht die „Kathedrale der Verkündigung Maria“ (Blagowjeschtschenskij Sobor).
In allen diesen Kirchen sind unzählbare Schätze aufgehäuft, herrliche Goldgeräte, wundervolle alte Fresken, Edelsteine und seltene Gewebe, wie man dies in solcher Fülle und Formenpracht wohl nirgends in der ganzen Welt wiederfindet.
Hart am Ufer der Moskwa erhebt sich das große kaiserliche Kremlpalais, das ebenfalls wahre Wunderschätze an Kostbarkeiten (Kronen, Waffen, Kunstwerken des Altertums, Prunkwagen u. s. w.) birgt. Zur Seite des (1838-49 neuerbauten) roten Zarenpalastes, dessen Thronsaal unsere Abbildung zeigt, befinden sich die beiden aus dem Brand von Moskau (1812) geretteten altertümlichen Paläste: der Belpederepalast (Teren), 1656 erbaut, mit der alten Werkstatt der Zaren und die Granowitaja Palata (Facettenpalast), 1491 von italienischen Architekten erbaut, mit dem originell gewölbten, von einem einzigen Pfeiler getragenen Audienzsaal (jetzt Bankettsaal) der Zaren, den unsere Illustration wiedergiebt.
Hinter den Kremlgebäuden, von denen der mächtige weiße Glockenturm Iwan Welikij mit seiner vergoldeten Kuppel am höchsten hervorragt, liegt das Tschudowkloster, der alte Sitz der Moskauer Metropoliten. Welche Rolle der Metropolit im Kirchenleben Rußlands und besonders Moskaus spielt, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Er ist eine der interessantesten und einflußreichsten Persönlichkeiten des weiten Zarenreiches.
Die weltliche Gewalt im Gouvernement Moskau, dem am dichtesten bevölkerten Teil des ganzen russischen Reiches, liegt in den Händen des Generalgouverneurs, zur Seit des Großfürsten Sergius Alexandrowitsch, Onkel des Zaren und zugleich als Gemahl der Prinzessin Elisabeth von Hessen, Schwester der Zarin, dessen Schwager.
Im Gegensatz zu dem ganz modernen Petersburg, wo nur der Newskijprospekt lebhafteren Verkehr zeigt, ist das Leben und Treiben in den Straßen Moskaus mit seinen altrussischen Typen sehr bunt und bewegt.
In Moskau überwiegt zwar längst schon die westeuropäische Tracht, namentlich bei der ganz nach Pariser Mode gekleideten Damenwelt; daneben aber erblickt man noch heut auf dem gleichen Trottoir die verschiedensten nationalen Typen in buntem Gewirr durcheinander; die altrussische Amme in Festtracht, den Straßentheehändler in Bastschuhen und geflicktem Kaftan, den bescheidenen Muschik im grauen Armjäk oder im Schafpelz, den bärtigen Swjastschennik (Priester) in langem, braunem Rock und schwarzem Barett, den Kaufmann in altrussischer Pelzmütze, den Türken in rotem Fez, den Perser mit kegelförmiger schwarzer Schaffellmütze und den Iswoschtschik (Droschkenkutscher), den typischten Vertreter des „Mütterchens Moskau“, der solche Neuerungen, wie Tarif oder Reglement, nicht anerkennt und daher auch aus jedem Besuch „Väterchens“ in der alten Zarenstadt seinen Vorteil zu ziehen weiß.
Die ganze Bevölkerung hängt mit innigster Liebe an dem heiligen „Mütterchen Moskau“: „über Moskau,“ sagt der Volksmund, „geht nur der Kreml, über den Kreml nur der Himmel.“
Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.