Barfüssele

1905, von Dr. Robert Hessen. In das brausende Ringen unserer Zeit mischt sich vernehmlich als ein klagender Ton die ungestillte Sehnsucht nach Rückkehr zur Natürlichkeit. Ist sie uns überhaupt noch erreichbar? Das Kulturvolk, das heute von ihr schwärmt, erinnert an einen mit Menschen vollgepfropften Ballsaal. Von obenher klingen lockende Weisen; die Leute möchten gern tanzen, aber sie sind eingekeilt; es geht nicht. Von Zeit zu Zeit, bald hier, bald da, machen Kräftigere von ihren Ellbogen Gebrauch, dann drehen sich ein Weilchen drei, vier Paare. Hundert andere sehen neidisch zu, drängen störend heran, und der Tanz hört wieder auf.

Solche winzigen Enklaven repräsentieren auf hygienischem Gebiet zurzeit die spärlichen Luftbäder, Verzäunungen, innerhalb derer der Mensch sich, seiner Hüllen entledigt, frei bewogen kann. Welch eine Wonne, in diesem Zustand Dauerlauf zu machen! Man leistet das Dreifache und setzt doch leinen Tropfen Schweiß an. Er verdunstet, weil er es endlich einmal darf. Sonst schleppen wir dicke Kleider, um ihn daran zu hindern, und bringen uns um alle Annehmlichkeit der guten Jahreszeit. Klatscht uns das Hemd am Leib, so stöhnen wir Toren über die Wärme, für die wir dem Schöpfer danken sollten. “heut ist es aber heiß!” ist in solchen Fällen ein ganz unphysikalischer Ausdruck und bedeutet nur dies:; “Heute bin ich aber dick angezogen!”

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Wenn wir mit Stolz von unsern Gymnasien reden, sollten wir nicht vergessen, daß “gymnos” im Griechischen “nackt” bedeutet. Die griechischen Gymnasien waren Ringschulen; sie trugen ihren Namen von der allein zweckmäßigen Entkleidung, in der hellenische Jünglinge liefen, warfen und sonstigen Sport betrieben. Es ist eine Barbarei, die Körper unserer Turner mit Stauungswärme zu überladen und gleichzeitig ihre Leistungsfähigkeit herabzusetzen, indem man sie bei der Arbeit mit undurchlässigen Stoffen umpanzert.

Nur eine bestimmte Bevölkerungsschicht hört nicht auf, gegen die bösen Sitten unserer Kultur kräftig zu protestieren: die Kinderwelt. Wie unsere Neugeborenen immer noch in Kletterstellung (die Fußsohlen gegeneinander) daliegen, weil die Urahnen viele taufend, vielleicht gar Millionen Jahre auf Bäumen hausten, so strampeln sich die von den Unsitten der Erziehung noch nicht ins Joch Gebrochenen in ihren Bettchen instinktiv ab. Weshalb? Um ihrer Haut bessere Gelegenheit zur Ausdünstung zu geben. Mit Recht wird leider die Haut von vielen Hygienikern das meistmißhandelte Organ des menschlichen Körpers genannt. Durch ein Heer von Leiden, die wir “Erkältungskrankheiten” benennen, rächt sich die Natur an uns für jede Vernachlässigung und Brutalisierung. Der Kulturmensch, an Gewohnheiten sklavisch hängend, ist auch durch die Seuche der Influenza bisher nicht belehrt worden. Vielleicht bringen ihn die Wünsche seiner Kinder, die er doch liebt, auf andere Gedanken.

Für keine Körperpartie nämlich pflegt das Verlangen, sie bloß zu tragen, bei kräftigen Knaben wie Mädchen in der guten Jahreszeit so leidenschaftlich zu sein wie für die Füße. Welch ein Jauchzen, wenn die Mutter den flehentlichen Bitten endlich nachgab, die lästigen Stiefel und Strümpfe abgelegt werden durften. Nun hinein ins Gras, in den Fluß womöglich! Vor wenigen Jahren sah man in einer Großstadt am Rhein das graziöse und kerngesunde Töchterchen eines berühmten Rechtsanwalts und Abgeordneten plötzlich als richtiges Barfüßele auf der Promenade. Auch hier hatte ja nicht etwa nur das Beispiel der ärmeren Klassen gewirkt, die barfuß gehn, weil sie das Geld für Schuhzeug sparen wollen, sondern die Stimme der Natur. Denn ist die Perspiration, die unsichtbare gasige Verdunstung an der gesamten Hautfläche schon ohnehin von größter Wichtigkeit für die Reinheit unserer Säfte, so hat der Schöpfer mit der Fußhaut seine ganz besonderen Absichten gehabt und eine sofortige Strafe für Unzweckmäßigkeiten, mindestens eine Warnungstafel gegen Verweichlichung und Absperrung an ihr eingerichtet. Jeder von uns kennt den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen ihr und den Schleimhäuten des Nasenrachenraumes, jeder hat schon irgendwann einmal einen enormen Schnupfen oder Husten mit Bestimmtheit auf “nasse Füße” zurückzuführen vermocht. Nasse Füße wären an sich nicht schlimm, sie werden es aber bei schnürender Umhüllung mit nassen Strümpfen und undurchlässigem Leder. Jetzt erfolgt ein lähmungsartiger Zustand, die äußersten Blutgefäße krampfen sich zusammen, die Haut wird vom nährenden, wärmenden Körpersaft nicht mehr erreicht, erscheint bleich und fühlt sich kalt an. In dieser Verfassung vermag sie nicht mehr zu funktionieren, nicht mehr jene Stoffwechselreste auszuscheiden, die bei starker Bewegung, schnellem Umsatz in den arbeitenden Muskeln eine besondere Schärfe annehmen und, wenn sie nicht gasartig durch die Haut und im Schweiß entweichen, als sogenannte “Selbstgifte! in den Säften zurückbleiben. Merkwürdigerweise werden diese Selbstgifte nicht an irgendeiner andern wärmeren, besser Hautpartie an die Luft abgegeben, sondern suchen sich ihren Weg, richtiger Umweg, nach innen, zu Darm, Luftröhre, Nase, deren Auskleidungen keinesfalls beruflich daran gewöhnt sind, solche Stoffe zu beherrbergen, und in hochgradige Erregung geraten. Das Blut schießt herzu, die Schleimhaut schwillt an, sondert stark ab und beruhgt sich erst wieder, wenn sie sich gereinigt hat. Bei Füßen ist das unmöglich, da ist ein chronischer “Katarrh” überhaupt nicht heilbar; er bleibt eben die verdiente Strafe für Mißhandlung und mangelnde Pflege der Haut.

Soll man nun empfehlen, alle Kinder zur Stärkung barfuß gehen zu lassen? Und warum gehen wir Erwachsenen selbst nicht so? Weil wir, wie die Wissenschaft längst nachgewiesen hat, unsere Kleider zu drei Vierteln als unnützen Schmuck (um dem Körper eine andere Gestalt zu geben als die vorhandene), höchstens zu einem Viertel aus praktischen Gründen tragen. Wir tragen insonderheit die lästigen Stiefel und Strümpfe als Staubfänger, um uns öftere Waschungen zu sparen, also aus Bequemlichkeit, Mangel an Zeit und Mangel an guten Vorrichtungen. Barfußgehende wilde Völker kennen unsere Erkältungskrankheiten nicht, weil sie eine an freier Luft wohlgeübte, stets ausscheidungsfähige Fußhaut haben; auch die antiken Völker, die nur Sandalen an den Füßen trugen, kannten sie nicht im heutigen Maß. Aber bei ihnen war ein kostspieliges und zeitraubendes Badewesen das unerläßliche Zubehör ihrer Tracht, ein Fußbad das Erste, das dem heimkehrenden Hausherrn, dem eintretenden Gast aus zwingenden Gründen gereicht wurde.

Tacitus berichtet, wie in den Häusern der Germanen die Kinder bis zur Mannbarkeit nackt herumgelaufen seien; das war der Weg, eine starke Haut, eine Schutzmauer gegen “Erkältung” zu erzielen. Je mehr Haut also, und zumal Fußhaut, unsere heutigen Kinder in der guten Jahreszeit der Luft aussetzen, desto widerstandsfähiger werden sie im Winter sein. Vor einigen Jahren ist zwar von Aerzten wegen der scharfen Muscheln am Strand davor gewarnt worden, die Kinder barfuß gehen zu lassen. Solche ganz beiläufigen Rücksichten dürften aber niemals ein hygienisches Prinzip umstoßen.

Das zweckmäßige Mittel, sich gegen Glasscherben zu sichern kann unmöglich im Verbot des gesunden Barfußgehens bestehen, sondern höchstens in der Entwicklung einer Sandalenindustrie, die ganz abgesehen von der Erleichterung unserer belastenden, gedrückten und geplagten Füße zugleich eine sehr willkommene und nötige Stärkung der deutschen Volksgesundheit herbeiführen helfen würde.

Denn das Traurigste ist, daß auch unser Landvolk, das früher im Sommer bloß ging, im Winter die Füße in hölzerne, mit Stroh ausgelegte Pantinen steckte und kerngesund dabei blieb, längst angefangen hat, die gesundheitswidrige Fußtracht der Städter nachzuahmen, ja sich womöglich schon in der guten Jahreszeit Wollstrümpfe anzulegen, Schweißtreiber, die so lange kratzen und scheuern, bis die überreizte Haut eines Tags wie gelähmt ist. Unzählige Frauen klagen über chronisch kalte Füße, versichern aber stolz, daß sie wollene Strümpfe trügen. Ja warum denn, wenn die Wollenen ihre Schuldigkeit gar nicht tun? Doch in all diesen Dingen fordert uns keine Predigt, nur Beispiel tut es. Das zurzeit von den gebildeten Ständen gegebene ist schlecht. Besseres ist zwar gelegentlich versucht worden, doch ohne Autorität, die hätte durchschlagen und Nacheiferung wecken können.

Solche Autorität besaß ihrerzeit Madame Tallien, die schönste Frau von Frankreich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts.

Sie hat die griechische Tracht für ihresgleichen wieder eingeführt, und ihrer herzhaften Reform verdankte das schönste und gesündeste Frauengeschlecht der Neuzeit (bis etwa 1850) seine Blüte, seine Wärme, seine Frische, seinen graziösen Tanz.

Madame Tallien ist auch ohne Strümpfe zum Ballsaal gegangen – Lästerzungen behaupteten, um Ringe selbst an den Zehen zu tragen – doch sicher aus einem ähnlich genialen Instinkt für das Gesunde, der sie der Empiretracht die Bahn brechen hieß …

Sandalen, die der Eleganz durchaus nicht zu entbehren brauchen, dürften unser heutiges Bürgertum am ehesten, mindestens für die Kinderwelt, an den Gedanken freier Fußhaut gewöhnen, bis bessere Badevorrichtungen und der Hang zu aktiver, nicht bloß zu passiver Sauberkeit der Hygiene den Kriegsruf gestatten: “Fort mit den Strümpfen!”

Dieser Artikel erschien erstmals im Jahr 1905 in Die Woche. Das Bild ist ein Beispielbild von Esi Grünhagen auf Pixabay, es steht nicht im Zusammenhang mit dem Originaltext.