Eine Volksdichterin

Im Sommer dieses Jahres sind zehn Jahre verflossen, seitdem Frau Ambrosius in die Oeffentlichkeit trat.

Jahrelang vorher hatte sie gedichtet und die Werke ihrer Poesie gesammelt, aber ohne daran zu denken, daß diese einmal an das Tageslicht gezogen werden könnten. Mit der bittersten Armut, mit Krankheit und schweren häuslichen Sorgen kämpfend, klagte sie ihre Leiden in Gedichten, um sich Erleichterung zu schaffen. Wen sollte sie auch klagen? Ihre beiden Kinder waren damals noch zu jung, um sie zu verstehn, und ihr Mann hatte nicht die Gabe, die Empfindungen seiner Frau in der Form, wie sie zum Ausdruck gelangt waren, in sich aufzunehmen. Infolge einer Anregung ihrer Schwester entschloß sie sich, einige Gedichte einer Zeitschrift einzusenden, die sie zum Abdruck brachte.

Johanna Ambrosius

Auf diese Weise kam es, daß Professor Schrattenthal – Wien sie „entdeckte“ und 1895 den ersten Band ihrer Gedichte herausgab, worauf sie sofort bekannt wurde. Im Sommer 1895 trat sie alsdann auch persönlich in die Oeffentlichkeit, indem sie, einer Einladung des literarischen Dilettantenvereins in Königsberg i. Pr. folgend, einige ihrer Gedichte vortrug. Durch diese Reise nach Königsberg kam sie zum ersten mal aus ihrem weltabgeschiedenen Dorf heraus.

Das Heim der Dichterin

Nach ihrer Rückkehr mußte sie den Kampf um das Dasein von neuem aufnehmen, aber doch nicht mehr in so bitterer Weise wie zuvor. Aus Mitteln, die von allen Seiten, selbst aus dem Ausland für sie eingingen, schaffte sie sich nach Abbruch ihres alten unansehnlichen kleinen Hauses eine nicht große, aber überaus behagliche Wohnstätte, umrankt von wildem Wein und umgeben von einem prächtigen, wohlgepflegten kleinen Garten – ein wahres Dichterheim!

Sohn und Tochter (X) von Johanna Ambrosius

Seit mehreren Jahren hat Frau Ambrosius sich infolge des Todes ihres Mannes, der Verheiratung ihrer beiden Kinder und anderweitiger Umstände von der Oeffentlichkeit sehr zurückgezogen. Sie wohnt abwechselnd in Königsberg, wo ihre Tochter verheiratet ist, und in ihrem Heimatdorf. Zurzeit ist sie aber entschlossen in ihrem Heim zu Wermeningken zu verbleiben bis an ihr Lebensende. In ihrer schönen Wohnstätte, in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit gedenkt sie sich weiterhin dichterisch zu betätigen. Sie trägt sich auch mit der Absicht, ihre Lebensgeschichte zu schreiben und dem Druck anzuvertrauen.

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Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.