Beim Präsidenten Loubet

1900, von Maurice Leudet (Paris). Vor mehr als 40 Jahren – Emile Loubet hat heute schon die Sechzig überschritten – war der jetzige Präsident der französischen Republik Studierender der Rechte in Paris. Nach gründlicher Vorbereitung in dem halb klösterlichen, halb weltlichen kleinen Seminar in Valence und nach Ablegung der beiden Reifeprüfungen hatte er die Pariser Universität bezogen, um sich dort den Institutionen und Pandekten zu widmen, während sein Bruder Medizin studierte.

Die beiden Brüder Loubet wohnten gemeinsam in der Rue Bautefeuille in einem Haus, das heute verschwunden ist. Beide waren überaus fleißig; hatten sie doch frühzeitig gelernt, alle Wünsche der treuen Pflichterfüllung unterzuordnen. Sie entstammten einer wohlhabenden, aber höchst einfachen Familie in Montélimar, von der ihnen mit einer vorzüglichen Erziehung der Lebensernst und die Liebe zu einer nützlichen Lebensführung überkommen war.

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Das Studentenleben Emile Loubets besitzt keine Geschichte, sowie auch seine Familie gleich allen glücklichen Familien einer solchen entbehrt. Im Quartier Latin stach er aus der Menge seiner Kollegen nicht hervor. Er lebte mit allen auf bestem Fuß und wurde von allen Kameraden und Studenten seines bescheidenen Auftretens, sowie seiner Ehrenhaftigkeit und seines feinen Taktgefühls willen aufrichtig geschätzt. Sein Leben war dem Studium und der Lektüre gewidmet. Von jener Zeit her stammt seine Liebe zu den Klassikern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Damals schon verschlang er sie und lernte ganze Seiten aus ihnen auswendig.

Zur Vorbereitung auf seinen künftigen Advokatenberuf las er sich seinen Corneille, Racine und Bossuet laut vor, besonders den letzteren, dessen lange getragene Perioden sich der stark hervortretenden südlichen Aussprache ganz gut anpaßten. Weniger geeignet erscheint sein Dialekt als Südländer zum Vorlesen lyrischer Werke, für die Loubet noch heute eine ganz besondere Schwärmerei hegt. Im Familienkreis läßt sich der Präsident auch heute noch herbei, Verse von Musset, Viktor Hugo oder Lamartine zu deklamieren, aber nur dann, wenn seine Intimsten ihn hören.

Unter den Prosaisten waren dem Studenten Loubet Rabelais, Montaigne und Paul Louis Courier am liebsten, denen übrigens auch der Präsident Loubet treu geblieben ist. Er wiederholt häufig: „Ich lese ganz gern neues, lieber aber noch wiederhole ich Gelesenes.“

Jagd, Hunde und Pferde sind seit seiner Jugendzeit seine Leidenschaft. An Pferderennen hat er dagegen nie Interesse genommen. Er ist noch heute sehr gut zu Fuß und besitzt ein scharfes Auge. Guter Schütze mit zwanzig Jahren, ist er heute ein vorzüglicher Schütze. Bemerkenswert ist übrigens, daß er die Flinte mit der linken Hand hält.

Nach Vollendung seiner Studien erwarb er sich den Doktortitel mit dem Prädikat „Gut“.

In den Ferien eilte er stets zu den Seinen nach Montélimar, wo er nur Freunde unter Arm und Reich besaß. Bei seinem Vater und seiner Mutter, bei seinen Freunden, kurz inmitten der Familie zu leben, war ihm das Liebste. Am liebsten wäre er immer auf dem Land von Marsanne bei den Seinen und fern vom Treiben der Großstadt geblieben. Sein Beruf aber rief ihn wieder nach Paris, wo er nach kurzer Thätigkeit bei einem Advokaten Aufnahme im Bureau fand.

Der Elyséepalast, Residenz des Prasidenten der französsischen Republik

Er, der das Familienleben so zu schätzen wußte, mußte notwendigerweise selbst einen eigenen Herd gründen. So heiratete er Fräulein Picard, Tochter eines Eisenhändlers in Montélimar, deren Anspruchlosigkeit sich vortrefflich seiner eigenen Lebensanschauung anpaßte. Aus dieser Ehe stammen drei Kinder: eine Tochter, die an einen Marseiller Richter, Herrn Soubeyran de Saint Prix, verheiratet ist; ein Sohn, Paul Loubet, der gegenwärtig im achtundzwanzigsten Lebensjahr steht und demnächst seine Doktordisputation überreichen wird, die augenblicklich im Druck ist; und ein kleiner achtjähriger Junge, der geboren wurde, als Loubet zum letzten mal den Vorsitz im Ministerrat übernahm.

Der Präsident der Republik besitzt in Montélimar ein Haus von bescheidenstem Aussehen. Seine alte Mutter, die heute im 88. Lebensjahr steht, lebt in Marsanne, einer kleinen Gemeinde, fünfzehn Kilometer von Montélimar entfernt, in der der Präsident das Licht der Welt erblickt hat. Dort duzt er alle Welt, dort hat er keinen Feind, ja nicht einmal einen Gegner. Arbeiter, Bürger, Bauer verehren ihn und seine alte Mutter.

Emile Loubet, der Präsident der französischen Republik, in seinem Arbeitzimmer

Da ich schon von Madame Loubet-mére spreche – und will man von ihrem Sohn sprechen, so muß man stets auch sie erwähnen – so sei hier einer kleinen Episode gedacht, die ein treffliches Bild von ihrem Sohn, dem heutigen Präsidenten der Republik, giebt.

Während seiner letzten Ministerpräsidentschaft verbrachte Herr Loubet einige Urlaubstage in Montélimar. Den breitrandigen Hut des Südfranzosen auf dem Kopf, in leichtem Röckchen, die Zigarre im Mund, kam er eines Morgens nach Marsanne, seine Mutter zu begrüßen.

Frau Loubet war jenen Morgen gerade beim Brotbacken.

Ministersaal im Elyséepalast

Sobald sie ihren Sohn erblickte, rief sie ihm in ihrem prononzierten südlichen Accent zu; „Sieh da, Emile, du kommst mir gerade gelegen. Zum Teigkneten bin ich ohnedies zu alt, aber backen muß ich das Brot noch immer selbst. Du kannst mir dabei helfen.“

„Gewiß, Mutter, mit Vergnügen will ich dir helfen!“ erwiderte der Ministerpräsident gelassen. Und so konnte man den zukünftigen Staatschef seinen Rock ablegen und das Brot in den Backofen schieben sehen.

Es ist nicht die Aufgabe dieser Zeilen, die politische Laufbahn des Herrn Loubet zu beschreiben. Eins aber muß hervorgehoben werden: als die Ehren und Würden ihm zufielen, nach denen er nicht gestrebt hatte, als er zum Präsidenten des Senats gewählt und insbesondere als seine Pflicht ihn auf den Präsidentenstuhl der Republik rief, da hat seine Familie und besonders seine Mutter diese Nachricht nichts weniger als freudig aufgenommen. Es schien, als glaube sie, daß diese höchste Würde in Frankreich die engen Familienbande lockern werde.

„Er mag zufrieden sein!“ rief Madame Loubet-mére. „Ich bin es nicht!“

Paul Loubet, Sohn des Präsidenten u. sein Privatsekretär

Im Grunde genommen war ihr Sohn nicht befriedigter als sie. Lange genug hatte er seinen politischen Freunden, die ihn drängten anzunehmen, Widerstand geleistet. Er erklärte sich zur Uebernahme erst bereit, als man ihn überzeugte, daß seine Pflicht als Patriot und Republikaner ihm die Annahme gebiete.

Die gute alte Dame hatte sich, als sie das Telegramm ihres Enkels Paul Loubet erhielt, das ihr die Stimmenzahl mitteilte, die auf ihren Sohn Emile entfallen waren, nicht enthalten können, laut auszurufen:; „Der Arme! Was für Aerger wird er haben!“ Aerger hat er allerdings genug und wird er noch haben! Bei der Erfüllung seiner manchmal nur zu schwierigen Aufgabe aber stärkt ihn stets die Unterstützung, die alle ehrenhaften Politiker ihm angedeihen lassen, befestigt ihn das glückliche Familienleben, das ihn umgiebt, und das seltene Glück, noch eine liebende, sorgende Mutter zu besitzen.

Die Familienbande sind durch die Erhebung Herrn Loubets zur höchsten Stellung im Staat gewiß nicht gelockert worden. Aus dem Elyséepalast schreibt er ebenso oft seiner Mutter, wie er es gethan hat, als er noch ein kleiner Student in Paris war. Die Mutter besteht darauf, ihren Wohnsitz in Marsanne zu behalten, in ihrem Landhäuschen, in dessen erstem Stockwerk das Zimmer liegt, das sie bewohnt. Eine massive Holztreppe verbindet diesen Raum direkt mit der Küche, die das Erdgeschoß einnimmt. Und als einziger Schmuck hängen in ihrem Zimmer zwei Photographien, die ihres Mannes und die ihres Sohnes.

Rambouillet, Sommerresidenz des Präsidenten der französischen Republik

Das Elysée bewohnt Herr Loubet mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohn. Sein Sohn Paul, den er zu seinem Privatsekretär gemacht hat, hat seine Wohnung außer halb des Präsidentenpalastes.

So wünschte es Herr Loubet in seiner wahrhaft republikanischen Einfachheit, die in unserer Zeit so selten geworden ist, daß sie nicht genug betont werden kann.

Es ist vielleicht jetzt, nach diesen kleinen Zügen aus dem intimen Leben Emile Loubets, an der Zeit, in einigen Strichen das Porträt des Präsidenten von Frankreich zu zeichnen.

Herr Loubet hat einen sehr geraden und entschlossenen Charakter. Er ist für gewisse kleine Eitelkeiten unzugänglich und frei von Snobismus. Der ganze Machtapparat, der sich um ihn fast gegen seinen Willen entfaltet, übt auf die Treffsicherheit seines Urteils keinerlei trübende oder verderbliche Wirkung aus. Die Salons lieben es, sich mit ihrem Einfluß selbst in der Politik eines demokratischen Staates geltend zu machen. Der Präsident aber steht hoch erhaben über dieser Art Beeinflussung.

Präsident Emile Loubet auf der Jagd in Rambouillet

In allen Stellungen, die er einnahm, hat er zwei sehr verdienstliche Eigenschaften bewiesen: Takt und Maß, und alle seine Handlungen können mit zwei Worten gekennzeichnet werden: „Reinheit, Ehrenhaftigkeit!“

Man hört ihm hier und da vorwerfen, er imponiere nicht! Gewiß, das Sichinscene setzen ist nicht seine starke Seite. Seiner Natur ist alle Komödie verhaßt. Er posiert nicht, versucht nicht, die Galerie zu verblüffen. Ihm wird es gewiß nicht einfallen, für den Präsidenten ein eigenes Staatskleid zu verlangen. Seine kleine und gedrungene Gestalt und sein rundes Gesicht verbieten ihm übrigens schon alle theatralischen Gebärden.

Seine Lebensführung es sei wiederholt – ist heute genau dieselbe, wie sie e immer gewesen ist; sie steht außerhalb der Regeln des Zeremoniells, dem er sich bei offiziellen Gelegenheiten übrigens doch, wenn auch wider Willen, unterwerfen muß.

Am Balkonfenster Frau Loubet, Mutter des Präsidenten – Wohnhaus von Loubets Mutter in Marsanne bei Montélimar (Departement Dróme)

Seine Lebensgewohnheiten haben ebensowenig eine Veränderung erlitten, seitdem er ins Elysée eingezogen ist. Er ist Frühaufsteher geblieben. Als er noch einfacher Deputierter war, konnte man ihn jeden Morgen gleich nach 6 Uhr in einem Café auf dem Boulevard St. Michel seine Tasse Kaffee trinken und sein Hörnchen dazu essen sehen. Jetzt ist er um 6 Uhr schon in seine Arbeitzimmer, wo ihn auf seinem Schreibtisch eine Tasse Kaffee und das liebgewordene Hörnchen erwartet. Zuerst giebt er sich der Zeitungslektüre hin; er trifft dabei selbst seine Auswahl. Die Blätter, die nicht aufgehört haben, ihn zu beschimpfen und zu beleidigen, vermeidet er anzusehen.

Um 8 Uhr sieht man ihn häufig mit Herrn Combarieu, dem Direktor seines Zivilkabinetts, oder Herrn Poulet, dem Vorstand seines Sekretariats, zu Fuß ausgehen, nachdem er durch seinen Kabinettschef die nötigen Anordnungen getroffen hat. Um 9 Uhr ist er stets zu Haus und empfängt bis Mittag. Schlag 12 Uhr setzt er sich mit seiner Familie und einigen Freunden, von denen immer einige zu Besuch kommen, zu Tisch. Der Präsident ist kein Tafelfreund und hat das Glück, in seinem Alter noch nicht wählerisch sein zu müssen. Bevor er Präsident wurde, zog er die südfranzösische Küche vor, die gleich der italienischen mit Oel und Fett kocht; heute aber hat er sich leichten Herzens an die mit Butter zubereiteten Speisen gewöhnt. Aber – wie gesagt – er setzt sich nicht zu Tisch um des Genusses willen. Auch ist er im Trinken überaus mäßig. Er zieht den Rotwein vor und nimmt zu jeder Mahlzeit Bordeaux, nie aber mehr als eine halbe Flasche.

Er führt einen sehr gastfreien Tisch. Wenn er aber im engen Familien oder Freundeskreis speist, wird sehr rasch, ja sogar rasch – das soll mein einziger Vorwurf sein – gegessen.

Nach dem Dejeuner wird geraucht. Loubet ist wie sein Vorgänger ein starker Raucher. Im allgemeinen raucht er Zigarren; ist er aber allein oder mit den Allerintimsten, so zieht er auch die Pfeife hervor. Dazu dann einen seiner geliebten Klassiker, die ihm von großen Gedanken, großen Männern der Vergangenheit und großen Thaten der Weltgeschichte erzählen, und ein Glas Bier – und der glückliche Mann ist fertig.

Dann verbringt er eine Stunde bei der Arbeit, um hierauf Winter und Sommer, wenn nicht allzuschlechtes Wetter es verbietet, zwischen zwei und drei Uhr mit seiner Frau in das Bois de Boulogne zu fahren. Dort wird Halt gemacht, ausgestiegen und ein kleiner Spaziergang unternommen, als schwacher Ersatz für die stundenlangen Streifereien zur Jagdzeit, denen er sich besonders in Rambouillet mit Feuereifer hingiebt.

Nach seiner Heimkehr ins Elyssèe um vier nachmittags arbeitet er wieder oder empfängt die Parlamentarier der verschiedenen Parteien, die mit ihm zu konferieren wünschen.

Aus dem Elyséepalast in Paris – Emile Loubet, der Prasident der französischen Republik, an seinem Schreibtisch

Pünktlich um sieben Uhr wird das Diner gemeldet, und danach bleibt er, wenn es irgend angeht, im Familienkreise, zu dem nur wenige vertraute Freunde hinzugezogen werden. Um halb elf Uhr jetzt zur Zeit der Weltausstellung ist natürlich diese Regel von zahlreichen Ausnahmen unterbrochen – geht der Präsident zur Ruhe.

Gerade entgegen dem, was man hierüber geschrieben hat, spielt Herr Loubet nie Karten. Seine Hauptzerstreuung besteht im Gespräch mit seinen Intimen und in der Lektüre. Er ist ein großer Pferdeliebhaber: in Montélimar und in Marsanne pflegte er die Pferde selbst vor die Familienkarosse zu spannen und auch selbst zu fahren. Denn er führt vorzüglich die Zügel. Seine heutige Würde gestattet ihm allerdings solche Einfachheit nicht mehr. Sein Stall im Elysée ist vorzüglich besetzt.

So verläuft das tägliche Leben dieses einfachen Mannes, der durch seine Liebe zur Familie dazu erzogen ist, die große Familie zu leiten, die wir Vaterland nennen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.