Pariser Toiletten im Seebad

„Ha, welche Lust gewährt das Reisen!“ Es ist lange her, daß die liebenswürdige Musik Boieldieus unter Zugrundelegung obigen Textes die Reiselust der Franzosen zu popularisieren versuchte; aber trotz des alten Liedes ist die eigentliche Reisepassion dem Franzosen und dem Pariser erst sehr viel später gekommen, und ein reisendes Volk, so wie wir das verstehen, sind die Gallier noch immer nicht, werden es auch wohl niemals werden, trotz aller ihrer Leichtlebigkeit, Lebhaftigkeit und geistigen Regsamkeit.

Die genannten und weitere noch mehr in dies Fach schlagende Eigenschaften werden paralysiert durch die dem Franzosen heilige Routine, und die Routine hatte bis vor einigen wenigen Jahrzehnten regelmäßige Reisen noch nicht in ihren Jahresplan aufgenommen.

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Erst durch die Einmischung ausländischer und überseeischer Gesellschaft in die exklusiv-französischen Kreise, durch die zahlreichen franko-amerikanischen Heiraten gerade unter den „oberen Zehntausend“ ist auch in die alte, seßhafte Pariser Gesellschaft etwas von der Reisewut der Anglosachsen hineingeweht und hat nach und nach das erzeugt, was wir heute hier an der Seine die Reisesaison nennen.

Bis zu Anfang des verflossenen Jahrhunderts ging man wegen schwerer akuter Leiden in irgendein Mineralbad, wie Aix-les-Bains, Mont-Dore, Vichy oder, wenn’s sehr schlimm war, nach Karlsbad. Da brachte die jugendliche Herzogin von Berri, die mit einer zahlreichen Suite Dieppe besuchte, die Seebäder in Mode. Die nicht allzulange nach jener epochemachenden Reise erfolgte Geburt des Herzogs von Bordeaux, welch glückliches Ereignis der Kur auf Rechnung geschrieben wurde, wirkte angenehm anregend auf das königstreue „Faubourg“ und erhob die Besuche von Seebädern von da an auf die Höhe eleganter Saisondéplacements, auf der sie lange geblieben sind, bis sie in unsern nivellierenden Tagen, vulgarisiert und verallgemeinert, einen beträchtlichen Anteil an dem Jahresplan des französischen Durchschnittsgroßstädters, vor allem der Pariserin nehmen. Die Hauptreisezeit fällt hier in die Monate, die zwischen dem „Grandprix“ (15. Juni) und dem „Jour de l’an“ liegen.

Das Wort Reisezeit ist aber eigentlich nicht das Richtige für die von der Pariserin innerhalb dieses Zeitraums ausgeführten Evolutionen.

Verläßt sie Paris schon im Juni, was für die eleganteste Abreisezeit gilt, so geschieht das meist irgendeiner dringenden Kur wegen, an die sich dann die Seesaison in Deauville-Trouville, in Boulogne, in Dieppe (dessen Stern als Modebad aber seit längerer Zeit durch den Glanz, den Trouville und Biarritz entfalten, schon stark verdunkelt wurde) u. a. m. anschließt.

Fig. 1 – Kasino-Abendtoilette mit Spitzenpaletot
Fig. 2 – Waschbares Sommerkleid aus rosa Mull über rosa Seide mit Spitzenschmuck

Die Creme der hauptstädtischen Gesellschaft macht ihre Reisevorbereitungen im großen Stil, verpflanzt ihre Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche an den Strand, an den sie auch alle ihre Bedürfnisse und eine verdoppelte Sehnsucht nach allerhand Zerstreuungen mitbringt, so daß, wer den Pariser Luxus in seiner glänzendsten Entfaltung sehen will, ihn an den Ufern des Ozeans aufsuchen muß. Es fällt dabei ein Gegensatz zum deutschen Badeleben auf, der darauf hindeutet, daß die Seebadsaison für die Pariserin auch keine eigentliche Reise, sondern eben nur die Veränderung des Aufenthalts bedeutet. Mit der angeborenen Reiseunlust ging hier in Frankreich auch die Abneigung gegen das Hotelleben Hand in Hand, das in gewissen, sehr exklusiven Kreisen bis vor gar nicht langer Zeit immer noch im Geruch des nicht ganz Passenden, mindestens des Extravaganten stand und allenfalls gut genug für die Fremden war. Das Speisen im Restaurant vollends galt bei Damen nicht für comme il faut: „c’était pas ca“, wie man ungrammatikalisch, aber schick und ausdrucksvoll sagt, und „es war auch nicht das Richtige“ aus derselben Tonart heraus, im Bad Hotels und Restaurants zu besuchen, wenn man es irgend vermeiden konnte. Daher die zahlreichen Privatvillen an Frankreichs Meeresstrand, die entweder von ihren Besitzern bewohnt oder doch von einer Familie gemietet werden, und in die man seine Laren und Penaten möglichst mit hinüberschleppt, so daß das Strand- und Badeleben eine erweiterte, erfrischende Fortsetzung der Pariser Häuslichkeit bildet. Natürlich giebt es in Trouville und in den Schwesterstädten dieser Perle des Ozeans auch Hotels, es giebt derer sogar sehr viele, große und schöne; in ihren eleganten Zimmerfluchten, die charakteristischerweise meist als ganze Appartements und nicht als Einzelzimmer vermietet werden, wohnen eine Menge sehr wohlsituierter Pariser Familien, aber das Ideal der Träume ist eine Villa. In diese verpflanzt die Pariserin die Qunintessenz der Modekenntnis, die sie während der „Saison“ gesammelt hat und die sie dazu verwendet, um die Badewelt durch mehrmaligen Kleiderwechsel in freudiges Staunen zu versetzen.

Den Schluß und die Krone der täglichen Kostümpracht bildet, um vom verkehrten Ende anzufangen, die abendliche Kasinotoilette, von der übrigens in neuster Zeit das ballartige „décolleté“ gänzlich ausgeschlossen ist. Selbst zu den Tanzfesten erscheint die wahre „Elegante“ mit einem Mieder. das nur leicht vom Hals abfällt, beziehentlich einen spitzen oder viereckigen Einschnitt an Vorder- und Rückenteil und halblange durchsichtige Spitzenärmel zeigt; der weite runde Schulterausschnitt dagegen ist in den offiziellen Ballsaal und an den Zeremoniedinertisch verwiesen. Eine modern-elegante Abendtoilette (Figur 1) ist ein Kostüm, das in der Zusammenstellung des allerneusten vétement, einem aus der Halsrüsche, aus der Mantille und aus der Redingote entstandenen Spitzenpaletot mit der gestickten und inkrustierten Rockgarnierung originell wirkt. Das Unterkleid aus mattgrünem („jeune pousse“ heißt die Farbe bezeichnenderweise) Taffet, besteht aus glattem Schlepprock und tief ausgeschnittenem, kurzärmeligem Mieder. Es ist bedeckt von einem leicht fältelnden Gewand aus weißem Seidenmusselin, mit mattgrünen Seidenpunkten durchstickt, dessen Rockrand eine reiche, durchbrochene Garnitur aus Guipüre und mattgrüner Seidenstickerei, das Ganze à jour eingesetzt, bildet. Der erwähnte graziöse, auffallende Sackpaletot, genure redingote, aus schwarzem Chanillytüll, dessen weite Aermel und breiter Randvolant mit Silberflittern und grüner Chenille bestickt sind, erinnert durch eine volle schwarze Tüllrüsche und durch die vorn herabfallenden breiten schwarzen Sammetschleifen, wie gesagt, an die abgebrauchten Formen „tour de cou“ und Stola. Diese Tüllredingote, in andern leichten Stoffen nachgeahmt, ist die Abendhülle par excellence der Bäderkasini, wie die große, den Anzug krönende Phantasiestrohtoque der Kasinohut per excellence zu nennen ist. Sein Rival ist dieselbe Toque, aus weißem Seidentüll gerüscht; zu beiden Coiffuren passen die auf dem Bild 1 anschaulich werdende große weiße Straußenfeder und der breite Rand aus schwarzem Sammet.

Fig. 3 – Kostüm aus perlgrauem Mohair mit farbiger Garnierung
Fig. 4 – Abendtoilette mit Sackmantel aus mattgelbem Tuch

Als wärmendere Abendhülle nenne ich den weiten Sackmantel aus Tuch oder aus Taffetseide. Letzterer Stoff gewinnt durch ein gepufftes und gerüschtes Krepp- oder Seidenmusselinfutter noch an Eleganz. Mein Modell (Figur 4) aus mattgelbem, elfenbeinartig schimmerndem Tuch erinnert in seinem Kragenarrangement an den sehr hübschen, noch immer beliebten „Aiglon“, durch Sarah Bernhardt zur Unsterblichkeit berufen; die breite Falte in dem nahtlosen Rücken und die weiten bequemen Aermel, die nach Belieben offen getragen oder vermittelst seidener Schnurösen an die Knöpfe befestigt werden, neigt zum Genre „sac“ hin. Schwarzer Strohhut mit goldigschimmernden Fasanenfedern und weißes Organdikleid, dessen unterem Rocksaum zahlreiche schmale Fältchen Halt und Konsistenz geben. Das Kostüm ist in hellen Stoffen hergestellt, vorzüglich für die morgendliche Strandpromenade geeignet; ich sah das gleiche Modell, das Kleid aus blauem Etamine und den Paletot aus graubrauner („fumée“) Taffetseide mit gelblichem Pongeefutter hergestellt, ein eleganteres, dabei nicht unpraktisches Reisekostüm ist kaum denkbar. Die meiste Phantasie entwickelt die jetzige Sommermode in der Herstellung von Waschkleidern, die in Paris und seinen „Dépendancen“ bis jetzt nie recht beliebt waren und nicht heimisch wurden. Es muß wirklich der Widerspruchsgeist der Modisten und ihrer ausschlaggebenden Klientinnen gewesen sein, der diesem miserabeln Frühjahr zum Trotz wahre Orgien in Musselin, Tüll, Organdi, Spitzen und Mull arrangierte. Jetzt unter der wärmeren Sonne entfalten sich diese echten rechten Sommerkleider aufs prächtigste und zeigen, wie Figur 2, einen großartigen Aufwand an Spitzenschmuck. Dieses Kleid aus feinstem rosa Mull über rosa Seide, aber lose, so daß es leicht waschbar bleibt, gearbeitet, hat auf seinem Schlepprock drei von rosa Mullrüschen überragte Spitzenvolants. Das plissierte Mieder und die in drei Puffen geordneten Aermel zeigen volantartige Spitzengarnierung. Drapierter Gürtel aus rosa Taffet mit Pompadourblumenmuster. Der Hut ist eine Toque aus rosa Krepp, mit weißen Spitzen und rosa Nelken garniert, die sich der modernen welligen Scheitelcoiffure kleidsam aufschmiegen. Rosa Taffetschirm.

In anderer Weise und sehr kleidsam tritt die moderne Frisur unter der schwarzen Tülltoque an dem Modell (Figur 3) in die Erscheinung; das Haar läßt durch ein eigenartiges Arrangement, trotz des Scheitelzwanges, die Schläfen frei, was für manche Physiognomien, wenn sie nicht gewissermaßen „erdrückt“ werden sollen, notwendig ist. Der dunkle Hut, der das Kostüm begleitet, ist, wie die ganze Ajustierung, für nicht ausbleibende trübe Lage berechnet: Rock und Mieder sind aus glänzendem, jedem Wettereinfluß trotzendem perlgrauem Mohair gefertigt. Die Garnierung, „streps“’ aus rotem Taffet, auf dem Bock Unterchemisette aus rot und weißgestreifter indischer Seide und eine höchst originelle rote Seidenstickerei, die den bortenartigen Kragen umgiebt, beleben den grauen zarten Ton. Die Aermel, die, in einem geraden Stück geschnitten, an der Oberseite unter einem rotpaspelierten schmalen Ueberschlag zusammenfallen, sind besonders originell und ganz „dernier cri“.

Zum Schluß möchte ich darauf aufmerksam machen, daß stets ein scharfer Unterschied zwischen nachmittaglicher Promenaden und abendlicher Kasinotoilette in den eleganten französischen Seebädern, heute noch mehr als früher, herrscht. Ausländerinnen, besonders Amerikanerinnen, hatten in den letzten Jahren zu den Gartenfesten und andern geselligen Nachmittagsvereinigungen, die die Fortsetzung der Pariser „Saisonarbeit“ am Meere bilden, ausgesprochene Balltoiletten, dekollettert, und dazu einen großen, geschmückten Sommerhut angelegt. Es ist dies ein arger Mißgriff, der von wirklicher Eleganz und von den kompetenten Modeautoritäten zurückgewiesen wird. Der richtige Anzug für eine Gardenparty, für eine nachmittagliche Sommergesellschaft überhaupt, ganz gleich, ob dabei getanzt wird oder nicht, ist das jetzt in reizender Abwechslung und in ausgesuchtester Eleganz existierende leichte Sommerkleid, dessen duftiger Oberstoff auf Seide gearbeitet wird, von dessen reicher Spitzen- und Bandgarnierung aber glänzende metallische Flitter, Gold und Silberstickereien, künstliche Blumen (die nur auf den Hut passen) ausgeschlossen sind.

Die erwähnten glänzenden Zuthaten, Stickereien, Schmelzinkrustationen, und was in das Genre des „Clinquant“ fällt, sind für die Kasinoabendfeste zugelassen; das „décolleté“ ist aber völlig verbannt.

Hut und eleganter, weiter Abendmantel dürfen bei den Kasinosoireen niemals fehlen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 06.09.1902 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „Klementine“.