Beim Vizekönig von Indien

Indien ist zugleich der Stolz und das Schmerzenskind Großbritanniens; es ist ein überaus wertvoller Besitz, der aber häufig bedroht wird durch Aufstände der Eingeborenen und für den eine dauernde, wenn auch nicht gerade drohende Gefahr das Ausdehnungsbedürfnis Rußlands bildet.

Nachdem im deutsch-französischen Krieg neben dem russischen und dem österreichischen noch ein neues deutsches Kaiserreich erstanden war, glaubte Lord Beaconsfield, daß die Beherrscherin des großbritannischen Reichs die gleiche Würde bekleiden müsse; den Namen mußte dazu, wenn nicht das Mutterland selbst, die wertvollste Kolonie hergeben, und so führt seit dem 1. Januar 1877 die Königin Viktoria von England auch den Titel einer Kaiserin von Indien.

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Das Land, das von mehr als 220 Millionen Menschen bewohnt wird, zeichnet sich in weiten Strecken durch große Fruchtbarkeit aus; es ist eine Weizenkammer Europas, und doch wird es häufig von einem der schrecklichsten Feinde der Menschheit, den wir bei uns nur noch der Sage nach kennen, von der Hungersnot heimgesucht. So auch in diesem Jahr wieder. Unter lebhafter Zustimmung unseres Kaisers ist bekanntlich in den bessergestellten Kreisen Berlins eine Sammlung veranstaltet worden, um das Elend in Indien einigermaßen zu lindern, und der Kaiser selbst hat durch ein Telegramm den Vizekönig von dem Ergebnis in Kenntnis gesetzt, wodurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf Lord Curzon und die von ihm verwaltete englische Rolonie gelenkt wurde.

Lord Curzon, Vizekönig von Indien
Lady Curzon, Gemahlin des Vizekönig von Indien

George Vathaniel Curzon, Lord of Kedleston, wurde am 11. Januar 1859 in Scarsdale geboren; wie es in den vornehmen britischen Familien üblich ist, wurde er auf dem Gymnasium in Eton erzogen und bezog dann die Universität Oxford. Im Jahr 1885 wurde er Privatsekretär des Marquis of Salisbury, unter dem er dann 1891-92 als Unterstaatssekretär für Indien und 1895-98 als Unterstaatssekretär der Auswärtigen Angelegenheiten dem Ministerium angehörte. Die Reden, die er in dieser Stellung im englischen Parlament hielt, ließen ihn bald als Gegner Rußlands und Anhänger einer aktiven auswärtigen Politik erkennen. Seine Gegner wollen in ihm keinen großen Geist erblicken und behaupten, daß er von seiner Begabung mehr als billig eingenommen sei – eine Anschauung, die namentlich bei seiner vor zwei Jahren erfolgten Ernennung zum Vizekönig von Indien in einem Teil der englischen Presse Ausdruck fand, aber seine Freunde halten viel von ihm, und für sein neues Amt bringt er jedenfalls eine sehr notwendige Eigenschaft mit: die Kenntnis von Land und Leuten, die er durch Reisen in Asien erworben hat und die sicherlich nicht gering veranschlagt werden darf, da ihm die Königliche Geographische Gesellschaft die goldene Medaille verlieh.

Gouvernementshaus und Palais des Vizekönigs von Indien in der Weißen Stadt von Kalkutta

Und noch eins steht ihm zu Gebot, was für die Repräsentation ungemein wichtig ist, nämlich große finanzielle Mittel. Er ist der Schwiegersohn des bekannten amerikanischen Getreidespekulanten Leiter, dessen Tochter Mary, eine vielgefeierte Schönheit, ein Riesenvermögen mitgebracht und der seine Börse noch einmal weit aufgemacht hat, als Lord Curzon auf seinen neuen Posten entsandt wurde. Er hat u. a. die Kosten der Garderobe für die Lady und ihre Kinder bestritten, die ein erkleckliches Sümmchen verschlungen hat.

Ankunft des vizeköniglichen Paares Lord und Lady Curzon im Palast zu Kalkutta am 3. Januar 1899

Amerikanische Zeitungen haben sich damals eingehend mit dieser „Staats“-Angelegenheit beschäftigt und spaltenlange Artikel darüber veröffentlicht, aus denen so nebenher zu entnehmen ist, daß allein die Kleider der Lady ohne Juwelen und Spitzen 150 000 Mark gekostet haben. Die republikanischen Amerikaner, die es überhaupt sehr gern sehen, wenn die Töchter ihres Landes in vornehme europäische Häuser hineinheiraten, sind ganz besonders stolz auf Lady Mary Curzon, die Vizekönigin von Indien. In der amerikanischen Presse konnte man seiner Zeit die überschwänglichsten Aufsätze über sie lesen; da hieß es: „Lady Curzon, eine Amerikanerin, wird binnen kurzem die der Königin Viktoria im Rang am nächsten stehende Frau sein, sie wird über 300 Millionen Menschen herrschen und in prächtigen Palästen wohnen. Ihr Mann wird ein Einkommen haben, sechsmal so groß wie das des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er wird regieren, sie wird seine Macht teilen und das Prestige der amerikanischen Frau aufrecht erhalten.“

Wer diese Zeilen schrieb, hat offenbar, verführt durch den Titel Vizekönig, die Stellung, die Cord Curzon einnimmt, ein wenig überschätzt. Er ist in Wahrheit auf fünf Jahre in das allerdings sehr hohe, aber keineswegs völlig unabhängige Amt eines indischen Generalgouverneurs berufen. Seine Stellung ließe sich, an deutschen Verhältnissen gemessen, am ehesten mit der des Statthalters von Elsaß-Lothringen vergleichen, nur daß er nicht einmal so frei ist wie dieser, da er dem Staatssekretär für Indien untersteht.

Aus dem Reiche des Vizekönigs von Indien – Reisewagen des Lord Curzon

In Indien selbst teilt er seine Macht mit einem ausführenden und einem gesetzgebenden Rat. Im ersteren, der von der englischen Krone ernannt wird hat er Sitz und Stimme. Zum gesetzgebenden gehören der ganze ausführende Rat, eine Anzahl vom Vizekönig ernannter Mitglieder und der Gouverneur, in dessen Bezirk der Rat tagt.

Steht dem Vizekönig also schon bei der Zusammensetzung dieser Körperschaft ein großer Einfluß zu, so ist er trotzdem nicht unbedingt an ihre Beschlüsse gebunden. Er hat ein Vetorecht gegen alle Vorlagen, die die Finanzen, die Religionsübung, das Militärwesen oder die Auswärtigen Angelegenheiten betreffen. Allein noch weiter geht das Recht des Staatssekretärs, der alle in Indien gefaßten Beschlüsse aufheben kann, also auch solche, denen der Vizekönig zugestimmt hat. Eine ungeheure Verantwortung aber lastet auf diesem, weil ihm das Recht der Kriegserklärung zusteht, in dieser Beziehung ist er völlig frei und selbständig und hat wirklich königliche Gewalt.

Seine Residenz ist Kalkutta, im Sommer auch Simla am Himalaja. Kalkutta ist am Hugli, dem westlichen Ausfluß des Ganges, gelegen und zählt jetzt etwa 750 000 Einwohner, von denen 490 000 Hindus, 220 000 Mohammedaner, 30 000 Christen, 2000 Buddhisten und 1500 Juden sind, während sich der Rest aus Negern, Chinesen u. s. w. zusammensetzt. Die Stadt zerfällt in drei Teile, die „schwarze Stadt“ oder Palta im Norden, die „weiße Stadt“ oder Tschauringi in der Mitte und das Fort Williams im Süden.

Aus der Residenzstadt des Vizekönigs von Indien – Badeplatz der Eingeborenen in der Schwarzen Stadt (im nördl. Stadtteil von Kalkutta)

In Palta wohnen die Eingeborenen. Tschauinigi hingegen, wo die Europäer wohnen, hat einen ganz europäischen Anstrich; unter den neuen Palästen ist einer der prachtvollsten das große Gouvernementshaus, in dem jetzt Lord und Lady Curzon wohnen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.