Letzter Besuch in Michael von Munkacsys Künstlerheim

Am 1. Mai hat der Tod einen Künstler abberufen, dessen Ruhm einst beide Welten füllte: in der Nervenheilanstalt in Endenich bei Bonn a. Bh. ist der Maler Michael von Munkacsy seinen langen und schweren Leiden erlegen. Ein an Ehren und Erfolgen reiches Künstlerleben hat damit seinen Abschluß gefunden.

Als sich 1873 die Kunde verbreitete, die junge verwitwete Baronin Cécile de Marches geb. Papier, die still und zurückgezogen auf ihrem schönen Luxemburger Schloß Colpach lebte, wolle sich wieder verheiraten, schüttelten alle Bauern der Umgegend den Kopf. Das war ihnen unfaßbar. In den alten, stolzen Herrensitz, wo seit Jahrhunderten die Edlen von Pforzheim und die de Marches gesessen hatten, sollte ein Bürgerlicher einziehen! Man raunte sich allerhand tolle Geschichten in die Ohren: es sei ein Künstler, ein Maler, irgendwoher aus dem fernen Ungarland oder da herum; früher sei er Tischler gewesen, habe dann bei Wasser und Brot studiert und gezeichnet und gepinselt, Tag und Nacht gearbeitet, bis er ein großes, wunderliches, grausiges Ding nach Paris auf die Ausstellung geschickt und eine Medaille dafür erhalten habe: das Bild eines zum Tode Verurteilten! Er selbst hatte auch etwas Unheimliches an sich; die Bauern erinnerten sich, den stillen, schweigsamen Mann vor einigen Jahren, noch zu Zeiten des seligen Barons in Colpach gesehen zu haben, den Mann mit den tiefliegenden, blitzenden Augen, mit dem krausen, schwarzen Haar – damals war er oft einsam über die Höhen gegangen, hatte stundenlang regungslos dagestanden, wenn des Abends die Sonne langsam niedersank und der Himmel sich rot und gelb und violett färbte und fern auf die Wälder der aufsteigende Nebel aus den feuchten Wiesengründen sich wie ein Schleier breitete.

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Jetzt erinnerte man sich auch, wie damals die Diener vom Schloß in der Dorfschenke erzählt hatten, daß der stille, ernste Mann zuweilen lustig sei wie ein ausgelassenes Kind, daß er dann wieder schwermütige Lieder in einer weichen fremden Sprache singe oder auch so wundersam pfeife, daß man die Vögel zwitschern zu hören glaube. Jetzt erinnerte man sich auch, wie er damals gemalt und gezeichnet hatte – die Wäscherinnen am Bach, die Gänse auf der Wiese, einmal auch ein Bauernbegräbnis. Und der „Hofmann“ wußte dann noch besonders von dem einen Zimmer im Schloß zu erzählen: da waren alle Wände von dem Ungarn bemalt worden – der selige Baron war da zu sehen, wie er am Parkthor mit dem Pfarrer von Ell plauderte, da war der Bach, der Förster im Wald, Holzsucherinnen – aber alles dunkel und düster wie der Maler selbst. Nein, das war doch kein richtiger Mann für die liebe gnädige Frau!

Michael von Munkacsy in seinem Atelier auf Schloss Colpach bei Luxemburg

Und doch war die Sache richtig. Frau Baronin de Marches hatte sich entschlossen, dem treuen Freund ihres ersten Gatten, dem Maler Michael Munkacsy, die Hand zum Lebensbund zu reichen.

Jetzt jagte nicht mehr wie zu Zeiten des seligen Barons der Viererzug rasselnd und staubaufwirbelnd über die Landstraße, die Büchse knallte nicht mehr auf den Höhen; kein Bauer sah je den neuen Herrn zu Pferde, und die Luxemburger Sprache, in der der alte joviale Baron mit dem gewöhnlichen Mann Plauderte, blieb Munkacsy immer -spanisch. Dafür wurde aber in dem Anbau mit den hohen Glasfenstern jetzt mit Kohle und Kreide und Farben hantiert, es roch nach Oel und Terpentin und Firnis, und wenn der Meister aus dem Atelier herausrat war er rot und grün und blau besprenkelt.

Michael von Munkacsy in ungraischer Tracht

Trotzdem war es nicht stiller geworden im Schloß. Der Künstler war kein Griesgram und wußte zu leben. Wenn er mit einer Gattin von Paris, wo sie den größten Teil des Jahres verbrachten, während der Sommermonate in Colpach erschien, hatten die Ahnenbilder an den Wänden Grund genug, erstaunt in die veränderte Welt hinabzublicken: zu dem Neuen, dem Bürgerlichen, dem früheren Tischler kam es herangezogen aus den vier Winden – es war ein Leben wie an einem kleinen Fürstenhof. Und wenn abends die Sonne hinter den bewaldeten Höhen der Ardennen untergegangen war und die Feuchtigkeit sich wie ein nasser Schleier auf die Wiesen legte, dann klang es vom Schloß noch spät in das schlafende Dorf hinüber, Stimmengewirr und verhallende Töne aus dem Musikzimmer; wie Schatten huschten die Diener an den erleuchteten Fenstern vorüber, die hellschimmernden Kerzen der mächtigen Kronleuchter blinzelten in den stillen, dunklen Park hinaus, daß die Nachtfalter dem Licht zuflogen und geblendet gegen die Glasscheiben schwirrten.

Wehmut krampft uns das Herz zusammen, wenn wir jetzt durch die stillen Säle des Schlosses gehen. Hier hat er geweilt, hier trat er uns als Mensch entgegen, hier hat er als Künstler geschaffen, und es ist, als schwebe ein Hauch seines Geistes noch jetzt über die verlassene Stätte.

Alles sieht noch aus wie früher; die farbenbespritzten Stoffeleien stehen noch wie einst im Atelier, die Bilder schauen von den Wänden herab, die altertümlichen Kelche und Waffen liegen auf den geschnitzten Truhen, wie einst hängen die silber- und goldgestickten Seidenstoffe über den Sesseln, aber es ist, als habe sich eine schwere, drückende Last herabgesenkt auf die Pracht. Die träumerische Stimmung der Erinnerung überkommt uns.

Michael von Munkacsy mit seiner Gemahlin

Hier saß er sonst, abends, wenn er noch beim Lampenlicht zeichnete, immer auf demselben Platz vor dem schweren Louis XIII. Tisch; wir kennen den Tisch, wir kennen die persische Decke auf ihm; in „Milton“ hat Munkacsy sie auf die Leinwand gezaubert – jeder Stuhl, jede Vase kommt uns bekannt vor – hier das alte braune Klavier seiner Salonbilder, das Gewächshaus, dort der venezianische Spiegel, der hohe, ledergepolsterte Stuhl mit kupfernen Nägeln – es ist, als weilten wir in einer Zauberwelt, die sein Pinsel geschaffen hat, als müßten die Gestalten seiner Bilder hereintreten, die Duellanten mit Spitzenkragen und Raufdegen hier vor dem offenen Kamin aus rotem Sandstein, als müßte dort am Sessel der alte Milton in schwarzem Puritanerkleid erscheinen, um mit erhobenem Arm das „Verlorene Paradies“ vorzutragen. Dann wieder denken wir an ihn, den großen Künstler selbst, an Munkacsy. Bunt durcheinander tauchen die Scenen seines Lebens aus dem Dunkel auf; jeder Gegenstand um uns erinnert uns an ihn, an Stunden begeisterten Schaffens, an Stunden stolzen Triumphes. Sein ganzes Dasein zieht an uns vorbei.

Hier hängt ein Stich seines Verurteilten“. Damals lebte er in Düsseldorf, arm, unbekannt; zagend schickte er das Bild zur Pariser Ausstellung, zitternd, es könnte zurückgewiesen werden, das Werk, dem dann einstimmig die goldene Medaille zugesprochen wurde, das Werk, das den Maler über Nacht berühmt gemacht hat! Dort steht eine kleine Farbenstudie zu einem Christuskopf; sie gehört zu Munkacsy letztem Bild, dem „Ecce homo“. Als der letzte Strich fertig war, ahnte der Meister es schon, daß er nie wieder einen Pinsel anrühren werde; er wußte es, daß sein Ende gekommen war. Es ist, als habe er zum Schluß noch einmal alle seine Kraft und seine ganze Schaffensfreude zusammengefaßt; sein letztes Riesenwerk, die große Christustrilogie, mußte fertig werden, und sie ward fertig: „Christus vor Pilatus“, „Golgatha“ und „Ecce homo“.

Original-Federzeichnung von der Hand Munkacsys

Hier auf dem Tisch vor uns steht ein zierlicher Kasten aus Schmiedeeisen und Krystall, ein silberner Kranz liegt darin, den die Stadt Pest ihm, ihrem großen Ehrenbürger, 1882 in feierlicher Sitzung überreichen ließ. Das war ein großer Tag! Wie im Triumph hatten die Ungarn Munkacsy (vergl. Portr. des Künstlers in ungarischer Tracht) empfangen; die welken Lorberkränze an den Wänden erinnern noch an den Fackelzug, den die Studentenschaft ihm darbrachte. Damals durfte er es stolz empfinden: sein Name war mit unverlöschlichen Zeichen ins goldene Buch seines Vaterlandes eingetragen.

Wieder andere Scenen erscheinen uns; sein Pariser Haus, sein Atelier – jetzt steht es leer und ausgeräumt, und nichts erinnert mehr an die glänzenden Feste, die sich einst dort abspielten. In Gedanken schreiten wir wieder die breite Treppe aus altersgeschwärztem Eichenholz hinauf; zwischen dunklem Grün der Blattpflanzen schimmern die Spiegel an den Wänden, glühen die elektrischen Lämpchen in mattgefärbtem Glas. Alle Säle sind offen, hier das Speisezimmer im Stil Henri III. auf dem mächtigen Büffett blitzt das Silber, der kleine Salon mit seiner Kassettendecke und dem offenen Kamin, dann der große Saal und dahinter das Atelier. Hier ist der Ort, der Vergangenheit zu gedenken. Die hohen und höchsten Herrschaften ziehen vor unserm geistigen Auge vorüber. Kaiser Alexander III. von Rußland, der als Cesarewitsch Munkacsys Atelier besuchte, die Großherzöge von Luxemburg, von Sachsen- Weimar, der Prinz von Wales, die Kaiserin Friedrich, die Königin von Dänemark, die Botschafter und Gesandten aller Mächte, viele Staatsmänner und Würdenträger der europäischen Staaten, die Politiker Frankreichs von Gambetta bis Deschanel, die Präsidenten der Republik; dann die Künstler, die Maler und Musiker, die Schriftsteller, die Sänger und Sängerinnen – eine bunte Welt ist es, die vor uns wiederersteht: wir sehen Dumas Sohn, Pailleron, Daudet, Coppée, France und Hervieu erscheinen; Massenet, Gounod, Delibes, Hubay haben hier musiziert; Knaus, Werner, Vautier, Liebermann, Uhde Détaille, Duran, Cabanel, Lepage und Makart besuchen ihren Freund und Kollegen. Die Namen werden hier vor uns lebendig, und die Personen treten uns greifbar entgegen. Dann lösen sich einzelne Bilder schärfer aus der Masse ab, Erinnerungen an besondere bemerkenswerte Scenen; die große Soiree, als „Mozart“ fertig geworden war; dann das Fest zu Ehren der 800 aus Italien zurück kehrenden Ungarn, wohin sie Kossuths vaterländische Erde gebracht hatten; dann der unvergeßliche Lisztabend, wo nur Werke des anwesenden greisen Meisters aufgeführt wurden. Seine Schüler Diemer und Saint-Saën spielten, Faure sang, und den Chor bildeten die Schülerinnen der Marchesi. Und als sich am Schluß Liszt selbst erhob und zum Flügel schritt totenstill war es in dem weiten Saal, die Fächer hatten aufgehört zu knistern, kein Laut, keine Bewegung – und dann spielte er, so hinreißend, so wunderbar!

Als der Wagen, der uns zum Bahnhof bringen soll, über die Kieswege des stillen Parks rollt, als der letzte rötliche Streifen der Gebäude zwischen den hohen Bäumen verschwindet, ist es, als wiche ein Alp, der uns bedrückte. Die Stätte zu sehen, wo ein großer Mann geweilt hat, stimmt erhebend, aber auch wehmütig, da uns hier gleichsam der Geist einer Persönlichkeit entgegen tritt, deren Scheiden aus dem Leben wir so schmerzlich empfinden.

Dieser Artikel von F. Walther Ilges erschien zuerst 1900 in Die Woche.