Berliner Neubauten 55 – Das „Künstlerhaus zum St. Lucas“ in Charlottenburg, Fasanenstr. 11

Architekt Bernhard Sehring. Wie das zuletzt (in No. 31) vorgeführte Wohnhaus, so liegt auch der diesmal dargestellte Bau in jenem südwestlichen, von der Stadtbahn durchschnittenen Theile Charlottenburgs, der diesen Vorort mit Berlin W. verbindet und in dem z. Z. eine besonders lebhafte Bauthätigkeit besseren Ranges sich entfaltet; er hat seine Stelle an der Kreuzung der Stadtbahn mit der von der Artillerie- u. Ingenieur-Schule bis in die Gegend des Joachimsthal’schen Gymnasiums führenden schon mit älteren Bäumen bestandenen Fasanenstrasse erhalten.

Seit etwa 1 ½ Jahren vollendet, hat sich das Haus vermöge seiner eigenartigen, von dem üblichen Schema durchaus abweichenden Anlage und Durchbildung, sowie als Stätte eines fröhlichen, bis zu einem gewissen Grade auch dem Besucher zugänglichen Künstlerlebens, bereits eine unbestreitbare Volksthümlichkeit und einen Platz unter den sogen. „Sehenswürdigkeiten“ der Stadt erobert. In der That musste es, so lange es noch allein stand, und das bewegte, farbenprächtige Bild seines oberen Abschlusses wie eine phantastische Fest-Dekoration weithin sichtbar über die Baumwipfel der Fasanenstrasse empor ragte, die Aufmerksamkeit jedes Vorübergehenden auf sich ziehen! Heute, wo es auf fast allen Seiten schon von gleich hohen Gebäuden umgeben wird, will es bereits gesucht sein.

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Der Zweck der Anlage, die Eigenthum des Erbauers geblieben ist und auch ihm selbst eine Wohnung gewährt, wird durch den ihr gegebenen Namen ausgedrückt: sie ist eine Vereinigung von Künstler-Werkstätten mit Künstler-Wohnungen und als solche durchaus und mit bestem Erfolge nach den Gesichtspunkten guter Nutzbarkeit und Ertragsfähigkeit angeordnet. Allerdings ist sie trotzdem kein Nutzbau, wie so manche anderen, ausschliesslich für Atelierzwecke eingerichteten Miethhäuser unserer Stadt. Der Architekt war vielmehr bemüht, diese Bestimmung des Hauses auch in der künstlerischen Gestaltung desselben zum Ausdruck zu bringen und er hat dies mit einer Liebe und Hingebung gethan, der das Gelingen nicht versagt geblieben ist, Während die Insassen eines Berliner Miethhauses sich sonst kaum kennen und jede allzu nahe Berührung mit einander möglichst zu vermeiden suchen, lebt die Bewohnerschaft des „Künstlerhauses zum St. Lucas“, das bei weitem nicht allen Wünschen um Aufnahme Genüge leisten kann, in Eintracht und fröhlicher Geselligkeit – fortdauernd Anregung geniessend und Anregung spendend – wie eine einzige grosse Familie. Die Bebauung des Grundstücks, das mit seiner kürzesten, nach Osten gerichteten Seite an der Strasse liegt, während es im Süden von der Stadtbahn begrenzt wird, ist derart erfolgt, dass an der Strasse ein tieferes, zur grösseren Hälfte gegen die Flucht zurück gesetztes Vorderhaus errichtet ist, an das längs der übrigen Grenzen schmale, Seitenflügel sich anschliessen.

Grundriss vom I. Obergeschoss

Es ist dadurch ein geräumiger, in seinen äussersten Abmessungen bis zu 20 m und 30 m Abstand zwischen den gegenüber liegenden Flügeln sich erstreckender Hof gewonnen, der an der südwestlichen Ecke nach dem Nachbargrundstück bezw. der Stadtbahn sich öffnet. Einem Theile der Hinterzimmer des Vorderhauses und der Räume im rechten Seitenflügel ist durch jene Lücke ein freier Ausblick in der Richtung der Stadtbahn bis zum Bahnhof Charlottenburg und dem Grunewald gesichert.

Querschnitt durch den Hof

Von der Anordnung des Grundrisses, die an dieser Stelle wohl nicht bis in alle Einzelheiten vorgeführt zu werden braucht, dürfte der Grundriss vom II. Obergeschoss eine ausreichende Vorstellung gewähren, Wie aus dem Querschnitt ersichtlich ist, liegt der Fussboden der einzelnen Geschosse des Hauses nicht in einer Ebene, sondern es ist das letztere eigentlich in zwei selbständige Hälften zerlegt, welche durch die an der Hinterseite des Vorderflügels angeordnete, zweiläufige Haupttreppe derart mit einander verbunden sind, dass je ein Podest der letzteren dem beiderseitigen Fussboden entspricht. – Im rechten Seitenflügel und dem dazu gehörigen Theil des Vorderhauses ist dadurch ein Sockelgeschoss gewonnen worden, in welchem eine, den Mittelpunkt des geselligen häuslichen Verkehrs bildende, übrigens auch dem Publikum zugängliche Kneipe sich befindet; der hintere Theil dieses Flügels umfasst ausser einigen anderen Räumen 2 Bildhauer-Ateliers. Das hohe Erdgeschoss dieser rechten Seite, sowie die 3 Obergeschosse enthalten vorn je 1 Maler-Atelier mit einer Wohnung von 5 Zimmern, hinten je eine kleinere Wohnung von 4 Zimmern mit dem üblichen Zubehör. – Die linke (Stadtbahn-) Seite des Hauses, welche im Seitenflügel nur 3 Geschosse hat, birgt im Erdgeschoss 5 Bildhauer-Ateliers, im 1. Obergeschoss 5 entsprechende Maler-Ateliers, während in dem im Grundriss dargestellten 2. Obergeschoss die Wohnung und das Atelier des Besitzers liegen. Das 3. Obergeschoss des Vorderhauses ergiebt wiederum 2 Maler-Ateliers. Jedes der einzeln vermietheten Ateliers ist mit einem kleineren, zugleich zur Gewinnung weiterer Standpunkte zu benutzenden Vor- und Empfangszimmer verbunden, über dem ein mittels kleiner Treppe vom Atelier aus zugängliches Schlafzimmer angeordnet ist. – In den höheren Aufbau der rechten Seite sind Waschküche und Trockenboden verlegt; über der ersten liegt ein als „altdeutsches“ Thürmchen gestaltetes Aussichtszimmer, während das flache Dach über letzterem als Terrasse zu Studien für Freilicht-Maler benutzt werden kann. Ueber die künstlerische Gestaltung und Ausstattung des Hauses im Aeusseren und Inneren, von der unsere Bildbeilage einige Proben giebt, können wir – angesichts der Fülle und Mannichfaltigkeit des Stoffes – unmöglich eine ins Einzelne gehende Beschreibung liefern, sondern müssen uns auf Andeutungen allgemeiner Art beschränken.

Einblick in den Hof von der Rückseite

Hr. Sehring, der mit dieser Schöpfung gewissermaassen sein öffentliches Glaubensbekenntniss abgelegt hat, verfolgt bekanntlich eine Richtung, die sich in schroffen Gegensatz zu allen akademischen Regeln und Anschauungen setzt und auf dem Gebiete der Architektur etwa dem entspricht, was man auf dem Gebiete der Malerei als „Naturalismus“ bezeichnet. Eine Richtung, die insbesondere unter den Architekten Nordamerikas sich entwickelt und dort schon sehr beachtenswerthe Leistungen gezeitigt hat, die aber je nach dem Ausgangspunkte, auf welchem der Künstler gestanden hat, sehr verschieden in die Erscheinung treten wird. Während der akademische Architekt an einen geschichtlich abgeschlossenen Stil sich hält und nicht nur in allen Einzelheiten die Einheit desselben zu wahren bestrebt ist, sondern in vielen Fällen seine Schöpfung sogar den Forderungen dieses Stils unterordnet, streben jene „Modernsten“ unter den Architekten in naiver Verwendung verschiedener, dem jeweiligen Zwecke entsprechender Stilformen und Motive lediglich danach, ein eigenartiges, durch seine malerische Wirkung anziehendes, der Bestimmung des Gebäudes angemessenes Gesammtbild zu erzielen.

Thurmzimmer im III. Obergeschoss

Ueber die Berechtigung eines auf derartige Grundlagen gestellten baukünstlerischen Schaffens sind die Meinungen sehr getheilt. Die an ihrem Schuldogma festhaltenden Vertreter akademischer Strenge bestreiten es schlechtweg, ohne Anlehnung an eine bestimmte Stilweise Erspriessliches leisten zu können und weisen auf die Misserfolge hin, welche die Versuche der „Erfindung eines neuen Baustils“ noch immer ergeben haben. – Für uns genügt die Thatsache, dass jene, auch in Frankreich weiteren Boden gewinnende Richtung überhaupt besteht und in das werkthätige Schaffen Eingang gefunden hat, um ihr unsere Beachtung zuzuwenden; denn Alles, was besteht, trägt bekanntlich die Berechtigung seines Daseins in sich selbst. Eine Gefahr wird man in ihr um so weniger erblicken können, als es unter allen Umständen nur aussergewöhnlich begabten künstlerischen Kräften gelingen wird, auf diesem Wege etwas zu leisten. Mit jenen älteren Stil-Experimenten aber darf man die in Rede stehenden Bestrebungen nicht wohl in einen Topf werfen. Denn, wenn es jenen, meist nichts weniger als naiven „Erfindern“ eines neuen Baustils wesentlich darauf ankam, anstelle der bisher üblichen, geschichtlich entwickelten Kunstweisen einen neuen, in sich abgeschlossenen und zu allgemeiner Anwendung geeigneten Formenkanon zu setzen, soll sich bei den Naturalisten je nach den gegebenen Bedingungen und gleichsam zufällig jeder Bau als eine selbständige Schöpfung gestalten.

Treppenhaus

Das schliefst nicht aus, dass sich bei den Werken eines einzelnen Künstlers gewisse Formen und Motive wiederholen und dass daraus individuelle Züge sich ergeben werden, die man freilich nicht als „Stil“ bezeichnen kann, die aber ausreichen, um den betreffenden Bauten ein bestimmtes, bezeichnendes Gepräge zu verleihen. Nachdem Hr. Sehring nächst dem (im Jahrg. 87, No. 79 d. Bl. veröffentlichten) Unger’schen Atelier- Gebäude, der Fassade des Postamts am Potsdamer Bahnhof und dem uns gegenwärtig beschäftigenden „Künstlerhause zum St. Lucas“ neuerdings 5 andere grössere Bauausführungen verwandter Art – Wohn- und Geschäftshäuser, darunter 2 im unmittelbaren Anschluss an den Hof seines Künstlerhauses – begonnen hat, ist es nicht schwer, auch die gemeinsamen Grundzüge dieser Bauten zu erkennen.

Ausgangspunkt für sie alle ist eine, aus dem Nutzungs-Bedürfniss hervor gehende, ungesucht malerische Anlage, wie sie in ihrer Art die bekannten ländlichen Bauten Italiens zeigen. Die Wirkung der letzteren ist ohne Frage wohl das Ideal, welches dem Künstler bei seinen Fassaden-Gestaltungen vorschwebt und aus dem er vornehmlich seine Anregung schöpft, wenn er auch jene Bauten nicht unmittelbar als Vorbilder verwendet, sondern an deutsche Formen und Motive und ebenso an die landesüblichen Baustoffe und Konstruktionen sich hält. Die völlig gesimslosen Wände zeigen das rothe, weissgefugte Backstein-Mauerwerk, doch sind einzelne Theile – wie im vorliegenden Beispiel das oberste Geschoss der linken Strassenseite und des rechten Seitenflügels, das bekrönende Aussichtsthürmchen, der Runderker in der Hofecke, die Blenden zwischen den Fensterstürzen und den Entlastungs-Bögen auch glatt geputzt. Für die sparsamen architektonischen Gliederungen, vornehmlich für die Sohlbänke, Sturzbalken und Theilpfosten der Fenster, für die Balkons und die verschiedenfachen Aufsätze, das Portal, den figürlichen Schmuck usw., ist Werkstein – in Wirklichkeit Kunstsandstein – benutzt.

Für die verhältnissmäßsig geringe Bedeutung, welche der Architekt der Gestaltung der Einzelheiten gegenüber dem Gesammtbilde einräumt, dürfte namentlich die Thatsache bezeichnend sein, dass die in Kunstsandstein hergestellten Theile des Baues keineswegs sämmtlich nach besonderen Zeichnungen eigens für denselben hergestellt, sondern dass für dieselben mehrfach vorräthige Modelle der Fabrik benutzt worden sind. Selbst das Haupt-Portal an der Strasse gehört dazu; es hat s. Z. schon für einen anderen Bau (angeblich nach dem Entwurfe der Architekten Kayser & v. Grofzheim) Verwendung gefunden. – Von den kleinen romanischen Säulchen, die in der von uns mitgetheilten Ansicht des Thurmzimmers im III. Obergeschoss als Kaminstützen auftreten, sind am Aeusseren und im Inneren einige Hundert Stück angebracht worden, die den verschidenartigsten Zwecken dienen.

Die Dächer sind, wo sie in die Erscheinung treten sollen, als steile Ziegeldächer, im übrigen aber meist als flache Holzzement-Dächer gestaltet. In der Anordnung der Fenster-Oeffnungen ist von jedem „System“ Abstand genommen; dieselben liegen an den Stellen und sind in den Abmessungen gehalten, wie es die Räume, denen sie Licht zuführen sollen, verlangen; auch die Art ihres Abschlusses ist eine verschiedene. Ebenso sind die Erker, Balkons und Altane, an denen es keiner Wohnung fehlt, in zwangloser Weise da angelegt, wo sich die günstigste Gelegenheit dazu darbot. Und zu dem bunten Wechsel der Formen und Farben, der sich aus alledem ergab, gesellt sich im vorliegenden Beispiel noch eine Fülle dekorativer Zuthaten. Im Aeusseren das egyptische Löwenpaar, das den Eingang bewacht und in einer Nische vor dem Pfeiler des StadtbahnViadukts das farbig behandelte Motivbild des als Schutzpatron des Hauses gefeierten St. Lucas; unter dem Dachrande eine Reihe von Pferdeschädeln, die durch vertrocknete Laubgehänge verbunden werden. An dem mit Gartenanlagen und einem stattlichen Zier-Brunnen ausgestatteten Hofe, farbige Malereien an dem oben erwähnten Runderker, sowie verschiedene alte, in die Wände eingelassene oder an ihnen vorgekragte Skulpturen. Dazu mehrfach zierliche Schmiedearbeiten und über der Ecke des mittleren Vorbaues auf der rechten Seite das Gerüst für die Hausglocke, welche die Bewohner zu der in der Regel gemeinsamen Frühstück-Mahlzeit ruft. – Tritt diese ganze Anlage dem Besucher auch zunächst fremdartig entgegen, so wird er doch bald willig ihrem Reize sich hingeben und in ihr sich heimisch fühlen. Das erkennen selbst Diejenigen an, welche der ganzen Richtung feindlich und absprechend gegenüber stehen; freilich wollen sie die Leistung nur als eine dekorative und allenfalls für ein Haus dieser Bestimmung zulässige gelten lassen.

Portal mit Einblick in den Hof

Im Inneren der Anlage ist es neben dem Hauptraum der Kneipe fast nur das grosse Treppenhaus, welches eine bemerkenswerthe architektonische Durchbildung erfahren hat; und zwar erstreckt die letztere sich vorzugsweise auf die wiederum ganz aus Kunstsandstein hergestellte Treppe selbst. Wenn im übrigen gerade die Innenräume die Haupt-Sehenswürdigkeit des Hauses bilden, so verdanken sie dies weniger ihrer architektonischen Anlage als ihrer Ausstattung mit alten, meist in Italien und Tyrol gesammelten Oelbildern, Skulpturen, Schmiedeisen-Arbeiten und anderen Kunstgegenständen und Geräthen der mannichfaltigsten Art. Am reichsten ist diese Ausstattung gehäuft in der Wohnung des Besitzers, namentlich aber in der im 3. Obergeschoss gelegenen Wohnung des Malers Prof. Edgar Meyer, von der unsere Beilage ein Zimmer zeigt. Doch ist auch das Treppenhaus keineswegs karg bedacht und selbst den einzelnen Miethwobnungen ist ein Theil dieses Ueberflusses zugute gekommen. Finden sich doch im Hause nicht weniger als 24 Zimmer, in deren Plafonds alte Oelgemälde eingelassen sind. Im übrigen sind die Decken durchweg als Stuckdecken gestaltet – vielfach mit holzartiger Bemalung. Unsere Ausführungen, die von den im Maassstabe leider etwas klein gerathenen Abbildungen nur unvollkommen unterstützt werden, können selbstverständlich nur den Zweck haben, den Leser auf diese eigenartige und selbständige Schöpfung aufmerksam zu machen. Wer sie kennen lernen will, möge nicht versäumen, sie mit eigenen Augen zu sehen. Es wird ihn schwerlich gereuen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1891 in der deutschen Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „-F.-„