Berliner Strassentypen

Natürlich ist es ein Ehemann, der Herr mit Strohhut und Ueberzieher, der soeben nach dem Nickel in der Billettasche angelt. Vielleicht hat er den Trauring eingesteckt, um den Eindruck eines flotten Junggesellen zu machen. Aber es gelingt ihm nicht; die Falten in Ueberzieher und Jackett in Verbindung mit dem Umlegekragen reden eine zu deutliche Sprache. Der Gute hat die Nacht über Berlin studiert und läßt sich jetzt die Stiefel in Ordnung bringen, um auf seinem scheuen Heimweg den Nachtschwärmer nicht gar zu deutlich zu verraten.

Und der kleine Stiefelputzer, der inmitten seiner „Einrichtung“ vor ihm sitzt? Etwas Besonderes, Unaufgeklärtes ist an ihm. Niemand weiß, wie alt der Bursche ist, er gehört gewissermaßen zu den Unsterblichen, gerade wie der Leiermann im Tiergarten, der bereits in dem „Berlin vor 100 Jahren“ erwähnt ist. Seit Menschengedenken hat er seinen Platz an der kleinen Kirchhofsmauer am Potsdamerplatz inne, jedenfalls erheblich länger, als der Pavillon, der in seiner unmittelbaren Nachbarschaft erstanden ist. Er weiß von Papa Wrangel zu erzählen und von 1848 und von der Abfahrt des Königs 1870 zum Feldzug. Wenn er wollte, würde er vielleicht noch mit ganz andern Bekanntschaften aufwarten können, mit der Peter Schlemihls zum Beispiel oder der Ahasvers …

Dienstmann Nr. 11
Der Stiefelputzer

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Vielleicht ist er gar der „Ewige“ selbst in neuer Verkleidung, von der Wilhelm Hauff noch nichts wußte. Mit der Hüterin des Pavillons, seiner Nachbarin, verbindet ihn innige Freundschaft mit erbitterter Feindschaft im ewigen, unaufhörlichen Wechsel.

Fast ebenso angejahrt wie der Mann mit dem Bürstenarsenal und der Kruke voll Perleberger Glanzwichse, und zwar auch ein alter Knabe, der das Leben kennt, ist der Dienstmann Nr. 11, der am Portal des Roten Hauses sich der mittaglichen Herbstsonne erfreut. Er wartet auf Kommissionen und ist durch sie mit aller Welt vertraut. Naht sich niemand, ihm einen Brief ans Liebchen zur diskreten Beförderung anzuvertrauen, oder einen Chronometer, dem eine Ferienpause in der Schublade eines Pfandleihers zugedacht ist? Uebrigens kneift er die Augen nur des Lichts wegen so komisch zusammen; seine Kunden kritisch und mokant anzusehen, ist er zu bescheiden. Er nimmt nicht teil an den Händeln dieser Welt; die Neutralität des Alters und des Berufs vereinigen sich, ihn vor allen Extravaganzen zu bewahren.

Neu eröffneter Mittagstisch
Droschkenhalteplatz – Taxameter erster Klasse
Warme Würste

Ein stiller Straßenphilosoph, von dessen Persönlichkeit niemand Notiz nimmt und der darum ganz ungestört seiner trübseligen Weltanschauung nachhängen kann, ist der Sandwichmann. Auch er ist einst jung gewesen und hat auf seinen Stern getraut. Zu was Rechtem ist er dabei nie gekommen, und als dann die große Welle ihn aus den Bahnen, in denen er sich kümmerlich vorwärtstastete, herauswarf, hat er nirgend mehr Boden gefaßt. Seit einiger Zeit trägt er, einige spärliche Groschen für seinen Unterhalt zu erwerben, Plakate spazieren. Wenn jemand durch Zufall auf ihn hinblickt, ziehen die bunten Dinge mit ihrer herausfordernden Schrift das Auge auf sich, ohne daß der Mann zwischen ihnen beachtet wird. So ist er lebendig verschollen, und auch das hat sein Gutes: wenigstens kann er seine Tage vor Bekannten aus besseren Tagen verbergen. „Neu eröffneter Mittagstisch“ ist heute die Devise. Vor der Universität, zu den Füßen Wilhelm von Humboldts, ist das ein gewichtiges und gern gelesenes Wort. Es kann gar nicht genug neu eröffnete Mittagstische geben; daß sie billig sind, ist selbstverständlich, und den Herren Studiosen mit kleinem Wechsel ist jede Gelegenheit, es einmal wo anders zu probieren, sehr willkommen.

Oestlich der Universität, jenseits des Zeughauses und der Schloßbrücke, im Lustgarten gegenüber dem Schloß sitzt die Würstelfrau. Auch für sie sind die schönen Tage der Jugend und des Hoffens lange, lange vorüber, auch sie gehört zu den Resignierenden; dennoch ist es noch heute ihr Stolz, wenn sie sich des Sonntags „schneidig“ machen und „losziehen“ kann. Uebrigens bereitet ihr Kochkessel gegen das Ende des Monats hin dem „neu eröffneten Mittagstisch“ mitunter scharfe Konkurrenz. Es würde nicht uninteressant sein, wenn die ewig fröstelnde Dame eine Uebersicht über die geben wollte, die, ohne viel Aufhebens davon zu machen, gelegentlich bei ihr diniert haben: mancher Name, der heute Klang hat, würde auf der Liste sein. Derlei ist indessen von ihr nicht zu befürchten; die Vertilger ihrer Würstchen pflegen nämlich ihre Visitenkarte nicht dazulassen.

Ich weiß nicht, ob je irgendein Virchow die Struktur eines Berliner Droschkenkutschergehirns zum Gegenstand eines Spezialstudiums gemacht hat. Ich nehme an, daß es in diesem Gehirn ähnlich aussieht, wie etwa in einer Apotheke, in der alles fein säuberlich voneinander getrennt und so untergebracht ist, daß man das Ganze auf einen Blick übersehen kann. Ein Droschkenkutscher, der in der Weltstadt und den „umliegenden Ortschaften“ nicht Bescheid wüßte, dem die Straßen von Berlin nebst Vororten durcheinander gerieten: der Gedanke ist nicht auszudenken!

Jedenfalls bedürfen geistig stark in Anspruch genommene Leute mehr als andere der Ruhe und Erholung, so daß die Vorliebe der Berliner Weißlackierten für die Thätigkeit, der sich einer der Ihren auf unserm Bild mit Inbrunst hingiebt, kein Wunder ist. Im Hintergrund des Droschkenhalteplatzes in der Prinz Albrechtstraße sieht man, wie nebenbei bemerkt sei, eine Reliquie: die letzten Reste der alten Berliner Stadtmauer.

Berlin bei schlechtem Wetter- Strassenreinigung
Auf der Promenadenbank – Ein Gelegenheitsarbeiter
Fischtransport – Auf dem Asphalt liegt ein Aal

„Auf dem Asphalt liegt ein Aal, liegt ein Aal, liegt ein. Aal. -“ nämlich, wenn einer dem Mann entkommen sollte, der mit starker Hand seine Last, auf daß sie abgewogen werde, soeben ins Netz entleert. Im allgemeinen essen die Berliner den Aal lieber, als daß sie ihn nach den Worten des Gassenhauers in ihren Straßen lustwandeln lassen. Lastwagen voll Tonnen lebender Fische, wie deren eine als letzte ihrer Art auf unserm Bild soeben in sachgemäße Behandlung genommen wird, treffen bei der Zentralmarkthalle täglich in stattlicher Anzahl ein. Namentlich jetzt, „bei die teure Fleischpreise“, sind neben Geflügel Fische für den Miltagstisch noch mehr begehrt, als sonst.

Die Straßenkehrer! Junge Burschen, die mit ihrer „Waffe“ neben oder hintereinander gehen und in fast koketter Tracht den breiten Fahrdamm reinigen.

Der englische Publizist Stead findet, daß unter den großen Städten des Kontinents Berlin vor allen andern amerikanisches Wesen angenommen habe. Mag sein; leider sind wir aber noch immer nicht so weit, daß der Ehrgeiz auch in den Köpfen junger Burschen nach Art derer mit dem Schwemmleder erwacht. Es sind ordentliche Leute, die sich freuen, ihren Eltern und Geschwistern durch den Ertrag ihrer Tagesarbeit den Kampf ums Dasein erleichtern zu können. Auch sie machen sich Zukunftspläne, ihr Streben geht aber meist nicht über den Wunsch nach einer gut dotierten Hausknechtstelle hinaus. Ganz ehrgeizige wollen nach ihrem Eintritt beim Militär kapitulieren. Sich fortzubilden, bestreben sich verhältnismäßig nur sehr wenige.

Wer um sich zu blicken versteht, wird es nicht fertig bringen, sich leichten Herzens über die Bestrebungen zur Besserung der Lage des Arbeiters hinwegzusetzen. Freilich der „Gelegenheitsarbeiter“, für den eine geregelte Beschäftigung nicht existiert, der grundsätzlich nichts thut, als was erforderlich ist, um auf der Promenadenbank nicht gerade zu verhungern; er verdient kaum Teilnahme, es sei denn vielleicht vom erzieherischen Standpunkt aus. Die Sonne und die Flasche sind seine Freunde; wenn das große Licht auf ihn herab blickt, wenn die Flasche noch einen Schluck birgt, ist er zufrieden; frech und patzig blickt er in die Welt hinein, und es ist dem, der in solchem Umgang nicht geschult ist, nicht zu raten, mit ihm irgendwie anzubinden. Das Messer in seiner Tasche sitzt manchmal lose.

Am Hafenplatz – Ladearbeiter

Nun aber das Gegenstück! Scenerie: der Hafenplatz. Tag für Tag, sein ganzes Leben lang, bis die Schwindsucht ihn schließlich dahinrafft, schiebt der Ladearbeiter auf schwankem Brett schier übermenschliche Backsteinlasten vom Spreekahn hinauf zur Böschung. Das Tagespensum, das er zu leisten hat, wenn er seine Kinder ernähren will, kann er nur unter Mithilfe seiner Frau bewältigen. Sie vereinigt ihre Kräfte mit den seinen; die Uebung hat beide gelehrt, wie sie es machen müssen, daß der gute Wille zur thatsächlichen Förderung wird. Was aber treiben die Kinder derweile daheim? Die Kinder, die in allen Altersklassen vorhanden sind und aufwachsen, wie die Lilien auf dem Felde?

Es ist durchaus keine falsche Sentimentalität, wenn man annimmt, daß der Gedanke an sie das Leben der Eltern manchmal verbittern muß.

Ein versöhnendes Bild zum Schluß. Es ist gegenüber der Museumsinsel, dort, wo in der Nachbarschaft des Zirkus Busch und der Börse die allbekannten Werderschen den reichen Segen ihrer herrlichen Obstgärten in mächtigen Schiffsladungen zu Markte bringen.

Die grossen Obstkähne der Werderschen gegenüber der Museumsinsel

Schon ein einzelner Korb schöner, rotbackiger Aepfel, in dem sich in strotzender Fülle Rundung an Rundung reiht, hat unbedingt etwas Beruhigendes in sich. Noch beruhigender wirken naturgemäß die Batterien solcher Körbe, die von den Zillen der märkischen Obstbauern an der Burgstraße freundlich zum Ufer hinaufgrüßen. Kerngesunde, selbstbewußte, sonnengebräunte Kraft wandelt in Gestalt der-Verkäufer zwischen der „Ware“ her und hin. Sie bringen ein Stück Landluft mit, und der Berliner atmet den fremden Odem voll Entzücken ein. Daß sein Sinn so intensiv sehnsuchtsvoll nach diesem Duft steht, ist ja eine der bezeichnendsten Eigentümlichkeiten des Spreeatheners im Vergleich mit andern Großstädtern.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 47/1902, er war gekennzeichnet mit „A. Z.“