Von Hans Ostwald. – Hierzu 11 Spezialaufnahmen für die „Woche“.
Schmutzig-gelbgrau, eingefaßt in enge, dunkle Ufermauern, überragt von berußten Speichern und häßlichen Hinterhäusern, von qualmenden Fabriken und staubigen Mörtelwerken, von nüchternen Steinplätzen und den Fassaden dürftiger alter Straßen – so fließt das Wasser der Spree scheinbar durch die größte Stadt Deutschlands.
Der Flußlauf scheint so unansehnlich, daß er kaum von jemand beachtet wird. Niemand schwärmt von ihm wie einst unsere Eltern vom grünen Strand der Spree. Und doch empfängt Berlin von dem Fluß so viel Eigenart, so viel malerischen Reichtum, so viel wirtschaftliche Annehmlichkeiten, daß er eine bessere Behandlung verdiente. Ja, er sollte sogar laut gepriesen werden. Denn was wäre Berlin ohne die vielen Durchblicke und Ausblicke von den Brücken aus, was ohne die vielen willkürlichen Windungen der Spreeufer, ohne die vielseitigen Unterbrechungen des sonst so geradlinigen, steifen und nüchternen Straßenbildes? Da kommt die Spree frisch und breit wie ein wohlgenährtes Landmädchen aus den Wäldern, aus dem frischen Grün der Wiesen herein in die Stadt. Draußen vor dem Oberbaum ist sie noch breit und stattlich. Da können die vielen Stein-und Holzkähne quer in den Strom hinein mit der Spitze am Ufer liegen, da können an ihrem Ende nach der Mitte des Flusses zu noch mehrere Reihen anderer Kähne ankern – und der Fluß ist noch so breit, daß lange Fahrzeuge bequem umwenden, daß daneben die Personendampfer hinein in die Stadt hasten können, um die nach Wald und Wiese Lüsternen hinauszuschleppen. Und dabei sehen hier die Dampfer, auf die drei-bis vierhundert Menschen verpackt werden können, wie kleine Boote aus.
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Hier ist auch der Fluß noch nicht von steinernen Ufermauern und Häusermassen eingefaßt. Zwischen die Steinplätze schieben sich alte, ragende Baumreihen, und ein Ruderklub hat sich ein Stück des Ufers für eine Anlegestelle und für sein Bootshaus gesichert. Zwar rücken einzelne Fabriken bis dicht ans Wasser heran. Und von der anderen Seite sehen Schornsteinköpfe über Häuserreihen auf das Wasser herab. Hinten aber schimmert das Gewebe der Ringbahnbrücke von Ufer zu Ufer im Schwung ihrer feinen Eisenkonstruktion.
Gerade dieser Blick vom Oberbaum stromaufwärts ist von ganz besonderem Reiz. Da kann man sich noch denken, wie es am Ufer der Spree schön und herrlich sein, wie der Fluß in seiner ganzen Schönheit prangen könnte wenn er richtig geschätzt würde. Aber es kommt hier nicht darauf an, zu schildern, wie es sein könnte. Ich will nur sagen, wie es ist.
Vom Oberbaum nach der Stadt zu wird das Bild ein anderes. Ist die Spree oberhalb noch stromartig, unterhalb zieht sie wie ein Fluß, allerdings wie ein recht ansehnlicher Fluß, in die Stadt ein. Und sofort erheben sich Fabrikanlagen am Wasser. Nur ein Stück vom Ufer sieht so ganz anders aus als sonst die Landgrenze. Da ist ein Boots-und Anlegeplatz errichtet. Breite Steintreppen, mit kunstvollem Eisengeländer eingefaßt, steigen hinauf auf die Quadern des Kais, von dessen Höhe große Bronzegestalten herabschauen. Von dort aus kann auch eine der merkwürdigsten Aussichten genossen werden, die von der Spree geboten werden: die Oberbaumbrücke mit dem Viadukt der Hochbahn und den beiden gedrungenen Wehrtürmen; die geben ihr fast das Aussehen, als sei sie schon Hunderte von Jahren alt mit ihrem massigen Backsteinbau, mit ihrer Spitzbogenarchitektur. Aber sie ist nicht älter als der Plan zur Hochbahn. Sie ist von vornherein so gedacht, daß hier einst drei Verkehrswege übereinander laufen werden: zu unterst die Spree, dann die Brücke mit den Bürgersteigen und dem Fahrdamm und dem von dem Viadukt vor Regen und anderm Unwetter geschützten Promenadengang, über den die Hochbahn in elektrischen Schienen entlang rollt.
Von hier an wird die Spree immer schmaler. Und immer mehr kommt ihr Charakter, ihre kommerzielle Wichtigkeit, ihr wirtschaftliches Wesen zum Vorschein. Da ist eine Müllabladestelle mit sonderbar überdachten Kähnen, da liegen wieder eilig den Sand aus den Fahrzeugen baggernde Mörtelwerke zwischen Fabriken. Links, vor der Drehbrücke der Eisenbahn, liegt der Uebungsplatz der Pioniere. Rechts hinter der Brücke werden Holzstämme an das Land, auf einen der größten Zimmerplätze gewunden. Holz aus dem Innern Polens, aus den Wäldern der Weichsel, aus den Bergen Amerikas – und wo eben all das Holz herkommt, das wir zu den kostbaren Möbeln brauchen, das in dem Rot des Mahagoni die Sonnenglut des Aequators, in dem Weiß des Tannen- und Kiefernholzes die Reinheit des nördlichen Schneereichen Winters zu bieten scheint, und das zu Täfelungen und Intarsien verarbeitet wird.
Links lagern sich um einen großen Speicherblock ganze Trupps von Zillen, wie der Brandenburger und der Berliner die Oder-, Elb- und Spreekähne nennen. Alle wollen entladen sein. Die kolossalen Kräne, die die Güter gleich mehrere Stock hoch heben, drehen und wenden sich voll Eile, und Männer schleppen in hastigem Lauf Säcke auf Säcke in den unersättlichen Bauch des großen Speichers, in diesen einen Teil des Rachens von Berlin. Ja, diese Millionenstadt sieht aus, als umlaure sie den Fluß, um von ihm gesättigt zu werden. Fast an jedem Fleck des Ufers haben sich Speicher und Warenplätze, Fabriken und Werkstätten niedergelassen. Selbst unter den Bogen der Stadtbahn, die sich bei der Jannowitzbrücke hoch über dem Wasserspiegel wölben, herrscht arbeitsames Treiben: Färbereien, Gerbereien und wieder Speicher. Und so geht es durch die ganze Stadt. Kaum daß dort, wo sich der Paradeteil Berlins befindet, dort, wo es sich zu Repräsentationszwecken in ein buntes Gewand von Schloß- und Museumsfassaden gehüllt hat, ein etwas gedämpftes Leben hineinkommt in den Güterverkehr auf den Wasserwegen. Aber selbst in unmittelbarer Nähe der Schlösser liegt ja die Schleuse; von ihr hat man einen Blick, der noch ein wenig von der Eigenart des alten Berlin, von der Eigenart der alten Spree enthält: da führt die altmodische Jungfernbrücke von der Spreestraße nach der Alten Leipzigerstraße.
Es gibt ja noch einige solcher alten Brücken. Aber sie haben alle nicht den Reiz dieser Jungfernbrücke, die hier die ältesten, winkelichsten und – interessantesten Straßen Berlins verbindet. Und selbst die Gegend am Krögel, diesem wildesten, romantischsten Teil Berlins, hat schon viel von ihrem Reiz verloren. Hier kommt es wieder zum Vorschein, daß die Spree und ihre Kanäle dem Millionenmund der Großstadt alljährlich ungefähr die Hälfte aller Warenzufuhren, die Berlin verzehrt, verbraucht und auch versendet; das sind etwa fünf bis sechs Millionen Gewichtstonnen, also über hundert Millionen Zentner.
In der unmittelbaren Nähe des Krögels ist die große Schleuse am Mühlendamm. Dort liegen fortwährend sechs, acht und mehr Schleppdampfer, wie Schnapphähne auf die durchgeschleusten Kähne wartend, um sie in langem Zug fortzuschleppen.
Hier kann man schon eine Ahnung von dem Tumult auf den Wasserwegen der deutschen Hauptstadt erhalten. So recht kommt dies Gedränge, dies Gehaste und Durcheinander, das dem Leben und Treiben auf den Hauptstraßen nichts nachgibt, aber erst an den vielen kleinen und großen Häfen, am Hafenplatz, am Nord- und Humboldthafen und vor allem in der Gegend zwischen den Zelten und der Friedrichsbrücke zur Geltung. Dort werden kolossale Mengen von Ballen, Fässern, Kisten auf Lastwagen verladen oder auf dem breiten Ufer aufgestapelt. Dort werden ebensolche Mengen in den fast unergründlichen Bauch der breiten Frachtkähne verstaut. Diese Kähne sehen schmucker, solider und wohlhabender aus als die Stein-und Sandzillen aus der Mark. Sie kommen eben von Hamburg, bringen allerlei schöne Dinge: Tabak, Kaffee, Tee, Apfelsinen und mehr solcher Leckerbissen. Und viele schöne Dinge führen sie wieder fort – in alle Welt.
Aber nicht nur der Tumult des Lebens gedeiht hier auf dem Wasser durch das Wasser. Auch die Idyllen blühen an allen und in allen Ecken.
Da ist die Gegend der Segelmachereien am Schiffbauerdamm. Früher wurden hier viel Spreeschiffe gebaut und ausgerüstet. Noch vor fünfzig Jahren waren da achtzehn Schiffbauereien im Betrieb. Jetzt leben nur noch die Segelmachereien. Und nicht zu vergessen: eine der sonderbarsten Kneipen, eine Schifferkneipe (siehe nebenstehende Abbildung), tief im Keller, mit Kahnmodellen an den Decken und allerlei Schiffsbildern, bunten Lithographien an den Wänden. Wenn man auf den alten Bänken zwischen den braungebrannten Schiffseignern und Schiffern sitzt, da ist es einem, als lebe man gar nicht in dem Trubel der Großstadt, da ist es, als sei man weit – weit hinausgefahren.
Es gibt noch mehr solche Idyllen: im Abendsonnendunst gleitet ein Kahn zwischen den glatten Steinufern des Landwehrkanals dahin. Hinten am Steuer des rot-braunen Kahns steht die Schifferfrau; fest und stark wie ein Mann. Wie sicher sie das Steuer hält! Wie streng sie nach vorn auslugt! Und sie merkt es nicht, wie der Wind ihr die Bänder der weißen Sonnenhaube um den Kopf schlägt, wie er an ihrem blauen Kattunkleid zerrt.
Ein kleiner Kahn liegt an der Brücke. Dürftig gekleidete Arbeiterfrauen klettern die Steinstufen des Kais hinab und holen sich Kartoffeln, die hier im Kahn um ein Geringes billiger als im Gemüsekeller.
Und ein sonniger Gegensatz dazu: im Tiergarten gleiten helle, bunte Kähne über Wasserspiegel, in die sich frischgrüne Bäume und Büsche zu tauchen scheinen, und in deren Glanz sich Park, Laub, Wolken und Himmel verdoppeln.
Hier scheint das Wasser, als sei es nie von häßlichen Mauern, von qualmenden Schornsteinen und dampfenden Abflußkanälen eingeengt worden. Hier wird es klar, wie sehr der Flußlauf in der Stadt mißhandelt worden, was alles aus ihm zu machen wäre, trotzdem er doch auch jetzt schon so reich an Motiven ist, daß ihn viele Maler – die ihn ja jetzt noch gar nicht kennen – gewiß nicht ausschöpfen würden. Ja, hunderte, viele hundert Motive bergen die Wasserwege Berlins, viel, unendlich viel mehr, als auf diesen Seiten geschildert sind – –
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 15/1904.