Berliner Rennsport

Von Wilhelm Meyer-Förster. Die Himmelfahrtswoche, die dritte im Mai, gehört in erster Linie dem Sport der Traber. Innerhalb von fünf Tagen kamen zu Wien und Berlin die beiden größten Rennen des Jahres, die Derbies, zur Entscheidung, das österreichische mit einem Preis von 30 000 Kronen am 12. Mai, das deutsche, etwas geringer dotiert, am Himmelfahrtstag.

Für die Leute vom Turf, deren Sport auf einer hundertjährigen Erfahrung fest aufgebaut und scharf umgrenzt ist, erscheint es überraschend und nicht recht verständlich, wie man im Trabersport eigentlich immer noch unsicher tastet und z. B. über die einfachsten Grundbedingungen der großen Zuchtprüfungen kein Einverständnis erzielt hat. So ist das Wiener Derby für Vierjährige proponiert, das Berliner Derby für Dreijährige, zwei Konkurrenzen mithin, die eigentlich nur den Namen gemeinsam führen und im übrigen nie zu einem praktischen Vergleich herangezogen werden können. Dreimal der Reihe nach – 1890, 91, 92 – gewann Herr Bürenstein aus Berlin mit seinen Pferden das Wiener Derby, vorher und nachher haben deutsche und österreichische Ställe die Preise hier und dort sich nicht streitig gemacht.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Unter den deutschen Dreijährigen aus Traberställen ist die Mariahaller Stute „Emilia“ ohne Frage die beste. Auf den ersten Blick klein, unscheinbar gewinnt die Stute bei näherer Betrachtung außerordentlich: der Typ eines praktisch gemachten Pferdes, stark durchsetzt mit Vollblut und ganz gewiß schon aus diesem Grund manchen ihrer weichherzigen Gegner überlegen. Das kalifornische Blut der, „Electioneer-Kreuzung“ vermischt sich mit deutschem Vollblut in dieser kleinen Stute zu einer ganz einzigen und eigenartigen Verbindung, die erfolgreich durchgeführt zu haben das Gestüt Mariahall und sein Besitzer und Leiter Herr Mössinger stolz sein können. Was Leland Stanford – der kalifornische Nabob, der aus seinem Erbe eine der größten Universitäten Amerikas gegründet hat – theoretisch und praktisch anstrebte: den Kentuckytrotter durch reichliche Kreuzung mit englischem Vollblut zu dem schnellsten Wagenpferde der Welt zu machen, das hat in kleinerem Maßstab Herr Mössinger zu Mariahall gleichfalls versucht und erreicht. Der Dritte, der denselben Weg einschlug, war Nikolaus Esterhazy, einst der Liebling der Wiener und ganz gewiß derjenige ungarische Magnat, der zeitlebens Deutschland die wärmsten Sympathien geschenkt hat. Er kreuzte Halbblutstuten mit einem deutschen Vollbluthengst und gewann mit den Produkten dreimal das Wiener Derby. Vielleicht, daß er nicht wie der amerikanische Eisenbahnkönig auf Grund sorgfältiger anatomischer Studien diese für jene Zeit immerhin eigenartige Kreuzung versuchte, möglich, daß es nur eine von Graf Nickys bizarren Launen war. Immerhin gab der Erfolg auch ihm recht. Unter den böhmischen und ungarischen Kavalieren durfte Nikolaus Esterhazy jedenfalls als ein Original gelten, im besten Sinn. Er war einer der großen Reiter aus Rosenbergs Zeit, in seinem Schloß zu Totis schuf er das kleine Wundertheater mit eigenem Orchester und eigenen Darstellern, von dem die Wiener Künstler heute noch wehmütig schwärmen – siegreiche Rennpferde spannte er in die Kutsche, einen seiner „Leger“ – Sieger ließ er vierundzwanzig Stunden nach dem „klassischen Erfolg“ wie ein „Tausendmarkpferd“ über Hürden springen – er that alles anders, wie die Tradition es vorschreibt. Er ist nicht hoch zu Jahren gekommen, und man hat ihn in Deutschland ebenso sehr betrauert wie in seiner Heimat.

Auf der Trabrennbahn in Westend bei Berlin

Eigentlich volkstümlich, wie etwa in Wien, sind die Trabrennen in Deutschland nicht geworden. Sie beschränken sich im wesentlichen auf Berlin und Hamburg, und alle Mühe einflußreicher Gönner – des Prinzen Salm-Horstmar, des Grafen August Bismarck, des Generals v. Podbielski und anderer – hat nicht ausgereicht, das Interesse weiter Kreise für diesen volkswirtschafllich nicht unwichtigen Sport zu gewinnen. Mit der Zeit wird sich das ändern. Das Berliner Equipagenpferd ist hinsichtlich seiner Geschwindigkeit auch von wohlwollenden Leuten gewiß niemals hoch eingeschätzt worden, seit aber das Fahrrad erfunden wurde und gar der Motorwagen, beginnt selbst der Harmlose einzusehen, daß dies Tier als Mittel zur raschen Fortbewegung auf die Dauer keine Existenzberechtigung hat. Und da es eine Traberzucht giebt, die ungefähr dreimal schnellere Pferde produziert – Tiere, die vor leichtemn Wagen auf glatter Landstraße mit jedem Personenzug konkurrieren – so wird der Traber im modernen Drängen nach immer schnellerem Vorwärtskommen wohl doch noch einmal eine Rolle spielen.

Die Mariahaller Stute Emilia, schnellster deutscher dreijähriger Traber

Am 14. Mai ging auf der Berliner Flachrennbahn in Hoppegarten das Frühlingsmeeting nach sechs glänzend verlaufenen Renntagen zu Ende. Das erste Viertel des „Rennjahres“ hat damit seinen Abschluß gefunden, während das Derby zu Hamburg am 16. Juni den Höhepunkt der Saison bringt. Wer es gewinnen wird? Niemand weiß es. Als Favorit notiert der Wettmarkt einen ungarischen Dreijährigen, da dieser Jahrgang aber in Zis– und Transleithanien unerhört schlecht zu sein scheint, so fragt man sich vergebens, mit welchem Recht man dem fremden Hengst bessere Chancen einräumt als unsern eigenen Derbypferden. Helden sind freilich auch in den deutschen Rennställen im Frühjahr 1901 mit der Laterne zu suchen, und Jahre, in denen die Stuten so sehr dominieren wie jetzt, gelten in der Regel als für die Zucht verloren. „Laërtes“ gewann am 12. Mai den Großen Sachsenpreis zu Dresden, aber es gehört Mut dazu, ihn mit 8:1 für das Derby zu nehmen. Ein ganz guter Witz ist es, daß einer der großen Hamburger Goldleute, Freunde von Cecil Rhodes, diesen „Laërtes“ selbst gezogen und den Hengst als „unbrauchbar“ ausrangiert hat. Für 1400 Mark verkauft, ist das Pferd heute gut das Zwanzigfache wert. Der Geldverlust wäre natürlich zu verschmerzen, aber ein Derbypferd im Stall gehabt und für ein Butterbrot fortgegeben zu haben, ist mehr, als ein Züchter und Sportsman mit guter Laune zu ertragen vermag.

Die Zuschauer beim Endkampf
Auf dem Sattelplatz
Am Totalisator

Zwei andere Derby-Favorits absolvierten am 14. Mai ihr erstes diesjähriges Rennen: Fürst Hohenlohes „Zuleika“ und Herrn v. Bleichröders „Dädalus“. Die Stute blieb nach scharfem Kampf Siegerin, aber der Stil, in dem der große unfertige Hengst sich wehrte, gefiel so sehr, daß „Dädalus“ nach seiner Niederlage beinahe mehr Freunde für das Derby fand als seine erfolgreiche Gegnerin.

Gewinne ich?
Verloren
An der Barriere

Wahrscheinlich mit Unrecht. Er hat mehr den Galopp eines Fliegers als eines Pferdes, das über die anderthalb englischen Meilen des Derbykurses in einem scharf bestrittenen Rennen durchzustehen vermag. Alles in allem war“ Regenwolke“ wohl das beste dreijährige Pferd, das in diesem Frühjahr in öffentlichen Rennen Sieger blieb. In der „Union“ leider nicht engagiert, wird die schöne und schnelle Stute am Derbytage wahrscheinlich die meisten Freunde für sich haben. In den Wetten wird sie gleich „Läertes“, „Zuleika“ und „Dädalus“ mit 8:1 angeboten.

Ueber die Hürde
Ein überraschender Moment auf der Rennbahn in Karlshorst bei Berlin – ein Ausbrecher
Bekannte Sportsmen auf dem Rennplatz zu Hoppegarten bei Berlin – Siegesgewiss!

Karlshorst, die Berliner Hindernisrennbahn, hat die großen Ereignisse, so das Armeejagdrennen und die Internationale noch vor sich, beide Rennen stehen in allernächster Zeit bevor. Mehr als in früheren Jahren hat Prinz Friedrich Leopold der Rennbahn zu Karlshorst im Lauf der letzten Wochen seine Aufmerksamkeit zugewendet. Fast Renntag für Renntag war der Prinz bei den Meetings anwesend, und es fand seitens der anwesenden Offiziere allgemeine Beachtung, daß der Prinz am letzten Tag nicht wie sonst in seinem Pavillon blieb, sondern die Klubtribüne aufsuchte, sich dort zwanglos unter die anwesenden Sportsmen mischte und das eine der Offizierjagdrennen in der Mitte der Bahn beobachtete.

Oberstleutnant von Schmidt-Pauli, der Begründer und Leiter von Karlshorst
Oberstleutnant Heyden-Linden, der bekannteste deutsche Herrenreiter

Er fehlt fast bei keinem Meeting und nahm am letzten Renntage die Offiziersteeplechase im Innern der Rennbahn in Augenschein. Uebrigens gab es an einem der letzten Renntage eine Scene voll heilloser Aufregung, da im ersten Rennen einer der Hengste unmittelbar vor den Tribünen die Hürde zu nehmen sich weigerte, nach links fortbrach und mit einem respektablen Satz über die Barriere schräg springend mitten in das dichtgedrängte Publikum hineinfegte. Ein entsetzter Aufschrei der Damen, ein wildes Auseinanderstieben, dann war das kleine Intermezzo, bei dem der arme Gaul wahrscheinlich ebenso viel Schrecken empfand als die Flüchtenden, glücklich zu Ende. Alles in allem ist es eigentlich ein Wunder, daß auf den Rennplätzen das Publikum so selten zu Schaden kommt, denn die Vollblutpferde, die wahrhaftig nicht lauter Lämmer sind, werden auf dem Sattelplatz so ungeniert durch die Menge geführt und geritten, und manch harmloser Besucher geht oder steht so unmittelbar hinter den Tieren, daß man mehr als einmal das ängstliche Gefühl hat, eins der hinten ausfeuernden Pferde werde dem Nächstbesten den Kopf zerschlagen. Daß trotzdem dergleichen eigentlich nie sich ereignet, ist wohl mehr der Vorsicht der Tiere als der Menschen zu danken. Sie wissen wahrscheinlich auf einen Zentimeter abzumessen, wie weit der Hieb der Hufe nach rückwärts ohne Gefahr für unschuldige Zuschauer sich ausdehnen darf.

Dieser Artikel erschien zuerst am 20.05.1901 in Die Woche.