Berühmte Franzosen zu Hause

Die Stadt Paris grüßt vom hohen Festportal der Weltausstellung ihre Gäste, und die herrliche Metropole an der Seine ist für dieser Sommer wieder das Stelldichein aller Nationen der Erde geworden. Ein Vergnügungslokal für Hunderttausende?

Wohl doch etwas mehr. Paris beherbergt heute wie in früheren Tagen viele bedeutende Männer deren Geist, Talent und Wissen alle Zeit auch ohne Ausstellung den Ruhm des französischen Namens durch die ganze gesittete Welt tragen. Inmitten der mächtigen, geistigen Bewegung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Dichtung neue Stoffe, neue Formen und Gedanken zuführte, haben die Franzosen ihren Ruhm und ihre künstlerische Geltung immer gewahrt. Wir wollen einige dieser berühmten Männer in ihrem Heim besuchen.

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Der bartlose alte Herr, der auf dem Bild erscheint, wie er behaglich, die Hausmütze auf dem Kopf, die Füße in Filzpantoffel gesteckt, auf dem Sofa seine Zeitungen liest, auf dem andern Bild am Schreibtisch in emsiger Arbeit, ist Victorien Sardou, heute der Senior unter den großen Dramatikern Frankreichs. Die Mitstrebenden seiner Jugend, Emile Augier, Octave Feuillet und Alexandre Dumas Sohn, ruhen schon längst im Grab, während er, der bald Siebzigjährige (geboren am 7. September 1831), noch rüstig und rührig mit Phantasie und Feder schafft. „Madame Sans-géne“, die Komödie, die er für die Rejane geschrieben hat, war der letzte seiner großen Erfolge.

Der französische Dramatiker Victorien Sardou bei der Morgenlektüre

So Vollpariser Sardou nach Geburt und Wesen aber auch ist, so müssen wir doch mit der Bahn bis nach St. Germain fahren, ehe wir in Marly das fürstliche Besitztum finden, in dem der Dichter seit Jahren haust. Die Schreibstube zeigt nur wenig von der Kunst und dem reichen Geschmack der in einem üppigen Park gebetteten Villa.

Victorien Sardou in seinem Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch

Der Wundermann mit der nie erlahmenden Erfindung, der sein Talent immer an dem Beispiel anderer emporrankte, der seine ersten Satiren „Der letzte Brief“, „Alte Junggesellen“ im Geist Scribes und Augiers schuf, der die „Denise“ Alexandre Dumas mit seiner „Georgette“ beantwortete und der endlich die Rollendramen schrieb für seine beiden mimenden Musen: „Feodora“, „Tosca“, „Theodora“ für die Sarah Bernhardt; „Divorcons“ (Cyprienne) und „Madame Sans-géne“ für die Réjane – er hat niemals die Größe seiner großen Zeitgenossen erreicht und doch durch Geist, schlagenden Witz und sichere Kenntnis der Bühnenwirkung im modernen Theater eine führende Stellung behauptet.

Wie anders das Heim Pierre Lotis! Ein Museum aus den Kunstschätzen überseeischer Länder! Vasen, Masken, Porzellanfiguren, seltsame Bronzen und Waffen an den Wänden, auf den Tischen, auf dem Kaminsims. Julien Viaud – dies der bürgerliche Name Lotis, des „Schüchternen“ – hat als Offizier der französischen Marine die Welt gesehen und das Gesehene mit seiner Phantasie erobert. Er ist der Dichter des Exotischen geworden, der mit seinen Romanen von „Le mariage do Loti“, der auf Tahiti spielt, bis zu den von Carmen Sylva ins Deutsche übersetzten „Pêcheurs d’Islande“ alle Zonen vom Aequator bis zur Nachbarschaft der Polarregion durchmessen hat.

Der französische Romanschrittsteller Pierre Loti in seinem exotischen Salon

In seinem modernen, reich mit Bildern und allem Komfort ausgestatteten Salon begrüßen wir den Dichter des wohlhabenden französischen Bürgerstandes George Ohnet. Selbst reicher Eltern Kind hat George Ohnet frühzeitig Juristerei und Journalismus aufgegeben, um die Kämpfe des Lebens „Les batailles de la vie“ in seinen vielfach zu Dramen verarbeiteten Romanen zu schildern. Arbeit und Wohlstand, wie er selbst sie übt und genießt, sind seine Ideale, sein größter Held ist „Der Hüttenbesitzer“, der das stolze Herz seiner hochadligen Gattin erobert, seine beste Heldin die Bäckermeisterin, die „Sergius Panin“, den abenteuernden, treulosen Schwiegersohn, trotz seines fürstlichen Wappens über den Haufen schießt.

Der französische Dichter George Ohnet in seinem Salon

Und der letzte strenge Herr in seinem von steifen, überfüllten Bücherregalen umstellten Schreibzimmer ? Ein Dichter ? Ein Gelehrter ? Er ist beides, Paul Bourget.

Der Romaunschriftsteller Paul Bourget in seinem Arbeitzimmer

Als Dichter gemahnt er an die eleganten Fastenprediger der Pariser Salonkirchen; er trägt ernst das gelehrte Gewand des Forschers, aber seine Klientel sind die Damen der Welt. Pessimist in seinen Gedichten, ernster Kleinmaler in seinen „Pastels“ und „Nouveaux Pastels“ und in seinen Erzählungen, wie „Un crime d’amour“, „Mensonges“, „André Cornélis“ u. a., als der Schöpfer des psychologischen Romans gepriesen, forscht er nach den von Schuld und Schwäche umschatteten Winkeln der Seele, namentlich der Frauenseele, und einem schönen französischen Sprichwort folgend, verzeiht er alles, da er alles verstanden hat. Dieses Verzeihen ist unschätzbar, weil es ein gar so ernster Mann ist, der es gewährt.

Die modernen Franzosen sind freilich keine Modernen im Sinn Ibsens und Gerhart Hauptmanns; sie bleiben wie ihre Vorfahren im Dienst der Damen und der Galanterie.

Dieser Artikel von Emil Granichstaedten erschien zuerst 1900 in Die Woche.