Seit es mehr oder weniger zum guten Ton der amerikanischen Gesellschaft gehört, ein oder zwei Wintermonate in Washington, der Bundeshauptstadt der Vereinigten Staaten, zuzubringen, ist es dort mit der alten demokratischen Einfachheit vorbei.
In jenen guten alten Zeiten, als Washington lediglich der Sitz der Bundesregierung war und die Beamten und Volksvertreter sich nur während der Dauer ihres Amtstermins oder der Sitzung des Kongresses dort aufhielten, war es nicht nötig, ein Haus zu machen. Die Präsidenten beschränkten sich auf einige Staatsdiners, Empfänge und Bälle, und ihre Minister und die übrigen Großwürdenträger folgten ihrem Beispiel. Wenn einmal eine Ausnahme gemacht wurde, sprach man jahrelang von diesem Ereignis, wie zum Beispiel von dem Ball, den Frau John Quincy Adams seinerzeit dem siegreichen General und Präsidentschaftskandidaten Andrew Jackson zu Ehren veranstaltete. Damals und noch bis vor etwa zwanzig Jahren galt Washington in der diplomatischen Welt für ein äußerst langweiliges Nest, und jeder dorthin versetzte europäische Diplomat suchte möglichst schnell von dort wieder fortzukommen. Heute hat Washington eine ganz andere Physiognomie angenommen, und in dem gesellschaftlichen Leben ist wenig Unterschied mit dem einer europäischen Großstadt zu finden. Man könnte Washington, abgesehen von einigen durch seinen Charakter als Hauptstadt einer neuen Welt bedingten Abweichungen, in vieler Hinsicht für eine europäische Residenz halten. Das Weiße Haus, die Amtswohnung des Präsidenten, ist mit allem Komfort und Luxus renoviert und ausgestattet worden und kann ruhig den Vergleich mit manchem europäischen Residenzschloß aufnehmen.
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Es ist der Schauplatz häufiger und glänzender Festlichkeiten geworden, und dem hier gegebenen Beispiel eifern die Repräsentanten amerikanischen Reichtums, die sich in Washington niedergelassen haben, die Mitglieder der Millionärklubs, wie man den Bundessenat spöttisch nennt, und in bescheidenerem Maß die Minister und andere hohe Beamte nach. Die Saison vergeht in einem Wirbel von Vergnügungen: Diners, Bälle, Lancheons, Five o’clock Teas usw. jagen einander. Fast jede Frau von einiger Bedeutung ist an einem bestimmten Nachmittag „zu Hause“.
Das Klubleben blüht wie nirgends in der Welt, London kaum ausgeschlossen. Dazu kommen Tennis, Golf und andere Spiele, an denen sich beiderlei Geschlechter beteiligen können, und die so bequem für einen „Flirt“ sind. Für Abwechslung ist also gesorgt, und man braucht sich in Washington nicht gerade zu langweilen.
Daß aber der Gesamtzuschnitt der Washingtoner Gesellschaft und ihres Lebens ein so anderer geworden, dazu haben nicht zum wenigsten die dort beglaubigten Vertreter der fremden Mächte, vor allem aber die schönen Frauen und Töchter, deren sich eine ganze Anzahl von ihnen erfreut, beigetragen. Anfänglich fast nur auf den Verkehr unter sich angewiesen, haben sie allmählich den Kreis ihrer Geselligkeit erweitert, auch außerhalb der amerikanischen Beamtenwelt stehende Personen hineingezogen und manche Schranke des Vorurteils durchbrochen.
Was aber vor allem diese Vertreter des Auslandes der amerikanischen Gesellschaft nähergebracht hat, das sind die in den letzten zwei Jahrzehnten vollzogenen Heiraten zwischen schönen Amerikanerinnen und Mitgliedern des diplomatischen Korps. Und der Zufall – oder ist es mehr als Zufall, vielleicht sogar Absicht der Regierungen ? – will es, daß nicht weniger als drei Botschafter, die von Deutschland, England und Frankreich, und der belgische Gesandte, die Amerikanerinnen zu Gattinnen gewählt haben, jetzt nach Washington gesandt worden sind.
Es hat ja in Deutschland ein gewisses Aufsehen erregt, daß Baron Speck von Sternburg trotzdem als Botschafter nach Washington gesandt worden ist. Seine Gattin ist die Tochter des verstorbenen Idahoer Bergwerksbesitzers Langham. Sie hat ihre Jugend größtenteils in Kalifornien und Kentucky verbracht, zwei Staaten, die hinsichtlich der Schönheit ihrer Frauen im gleichen Rang stehen wie Sachsen, „wo die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen“. Sie und ihre anmutige Schwester haben in das in den letzten Jahren so stille deutsche Botschafterpalais an der Massachusettsavenue – still, weil der vorige Botschafter von Holleben Junggeselle ist – Leben gebracht und es zu einem der geselligen Mittelpunkte Washingtons gemacht.
Nicht länger in Washington als von Sternburg sind der englische und der französische Botschafter Sir Herbert und Jusserand. Ihre Gattinen entstammen reichen Neuyorker Familien, sie haben dort großen Familienanhang und sehen häufig Mitglieder der dortigen Geldaristokratie bei ihren geselligen Veranstaltungen. Die vierte in diesem Bund der Grazien ist Frau von Moncheur, die Gattin des belgischen Gesandten. Baron von Moncheur hat zweimal unter den Töchtern des Landes gewählt. Seine erste Gattin, Fräulein Padelford aus Baltimore, hinterließ ihm bei ihrem Tod drei kleine Töchter und ein großes Vermögen. Vor kaum einem Jahr gab er ihnen eine neue Mutter in der Tochter des amerikanischen Gesandten in Mexiko, Powell Clayton. Der belgische Gesandte war bisher in Trauer um seine Königin und konnte daher keine Festlichkeiten veranstalten, wird dies aber gewiß in diesem Winter in glänzendem Stil nachholen.
Wie schon gesagt, sind mehrere der Washingtoner Diplomaten die glücklichen Väter schöner Töchter, so Graf Cassini, der Vertreter des Zaren, und der italienische Botschafter Mayor des Planches. Die beiden jungen Damen sind große Freundinnen und in der Washingtoner Gesellschaft äußerst beliebt. Von der Komteß Cassini – auf unserm Bild oben die junge Dame links erzählte man sich, sie habe sich für die letzte Wintersaison aus Paris nicht weniger als 64 Paar Schuhe mitgebracht. Botschafter Graf Cassini war in den letzten Monaten ein viel geplagter Mann, als Präsident Roosevelt seinen Entschluß verkündete, den gegen die Kischenewer Gräuel gerichteten Protest dem Zaren überreichen zu lassen, und der Botschafter dies auf alle mögliche Weise zu verhindern suchte.
Auch der türkische Gesandte Schekib Bei hatte in den letzten Wochen einige ungemütliche Tage, als die Vereinigten Staaten mehrere Kriegsschiffe nach Beirut sandten. Er mußte damals seine beschauliche Sommerfrische unterbrechen und nach Washington eilen, ohne aber den Entschluß des Präsidenten wankend zu machen. Jetzt hat sich ja alles in Wohlgefallen aufgelöst, und Schekib Bei hat wieder nach Point Comfort zurückkehren können.
Auch im Besitz einer jungen Tochter und zweier Söhne ist der neue chinesische Gesandte Tschentung-Liang-Tscheng; ob er aber seine Tochter mit der Washingtoner Geselligkeit bekannt machen wird, ist eine andere Frage, obgleich die Gesellschaft die exotische Schönheit sicherlich mit offenen Armen aufnehmen würde. Sein Vorgänger, ein ausgezeichneter Redner, erfreute sich großer Beliebtheit und wurde häufig zu Vorträgen auf Universitäten und bei Festessen eingeladen.
Wohl der Senior des diplomatischen Korps ist Geh. Rat Hengelmüller von Hengervár, der österreichische Botschafter. Er und seine Gemahlin zählen zu den einflußreichsten und beliebtesten Mitgliedern der Washingtoner Gesellschaft. Unser Bild gibt Baron Hengelmüller in ungarischer Nationaltracht mit dem Unterstaatssekretär des Aeußern Mc Adee wieder.
Deutschland hat in diesem Jahr außer einem neuen Botschafter auch einen neuen ersten Botschaftssekretär, Baron von dem Bussche-Haddenhausen, und einen neuen Militärattaché. Major von Etzel, nach Washington gesandt. Es wird ihnen dort ohne Zweifel gefallen; und wenn sie der Wirbel der winterlichen Vergnügungen ermüdet hat, dann finden sie im Sommer Erholung von den Strapazen in einem der Seebäder, in den kühlen Wäldern der Adirondacks oder auf der Jagd auf Elen und Rothirsch in den Wildnissen von Maine. Ja, es läßt sich drüben ganz gut leben, und in Washington ebenso vergnügt und gemütlich wie in einer europäischen Großstadt.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 40/1903, er war gekennzeichnet mit „American“.