Pariser Divetten

Marguerite Deval

Von Yvette Guilbert.

Das Chanson scheint in Frankreich zu allen Zeiten eine Art notwendiger Institution gewesen zu sein, die in vergangenen Jahrhunderten die Stelle täglich erscheinender Zeitungen einnahm.

Politische Ereignisse, Vorgänge am Hof und in der Stadt gaben den Chanssonnieres Gelegenheit, sie, in zierliche Verse gefasst, zu den Klängen einer anspruchslosen Weise von der Höhe ihrer Gauklerbude herab dem Volk vorzutragen, das ihnen treulich lauschte. Besonders der Pont Neuf sieht auf eine Reihe von Erinnerungen dieser Art zurück, wilde und begeisterte, je nachdem der Inhalt der Chansons von errungenen Siegen oder geforderten Abgaben handelte. Zur Zeit der Fronde sprach Mazarin mit einem Blick nach dem Pont Neuf: „Das Volk singt, also wird es zahlen!“ – Selbst die Könige verschmähten es nicht, unter die Chansondichter zu gehen, um die Reize ihrer Damen zu besingen, unter ihnen Heinrich IV., der zu Ehren Gabrielle d’ Estrées zärtliche Liebeslieder ersann.

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Das 18. Jahrhundert, chauvinistisch, galant und liebetoll, bildet den Höhepunkt der den Ruhm und die Liebe besingenden Chansons, die 1793 in bluterfüllte Lieder ausklangen, in einen Sang des Todes und der Guillotine. Man könnte meinen, daß die beiden Pariser Divellen unserer Tage, Marguerite Deval und Odette Dulac, der ersten Hälfte jener bewegten Zeit entstammen, nach der Meisterschaft, mit denen beide die doppelsinnigen Worte moderner Reimschmiede mit liebenswürdigster Grazie und einer lächelnden Unbewußtheit zum Ausdruck zu bringen vermögen. Zu Zeiten der Dubary wäre es ihnen beschieden gewesen, als Sterne an dem Bühnenhimmel zu glänzen, den die Favoritin zu ihrer und ihres königlichen Freundes Belustigung geschaffen, und die rosenumranklen, spitzenbesetzten Reifröcke, die Bouchers und Watte aus Meisterhand verewigte, wären die kleidsamste Hülle ihrer zarten kleinen Gestalten geworden.

Marguerite Deval
Marguerite Deval
Odette Dulac
Odette Dulac

Einer modernen Zeit entsprossen, scheint eine andere die ausgezeichnete Sängerin und Mimikerin Felicia Mallet, über eine Skala des Ausdrucks menschlicher Empfindungen zu gebieten. Sie vermag mit gleicher Vollendung dem Lachen wie dem Weinen, der Klage wie der Empörung eine Kraft zu geben, die nur echter Künstlerschaft entspringt. Fräulein Felicia Mallet ist eine Zierde der Kunst.

Felicia Mallet
Felicia Mallet
Anna Thiebaud
Anna Thiebaud

Anna Thibaud, ebenfalls eine erfolgreiche Diseuse, ist von anderer Art. Schön und mit der distinguierten Eleganz einer Herzogin gekleidet, bringt sie in die Music-Hall einen Hauch vornehmer Grazie, die sich doppelt wirkungsvoll von der Orgie von Farben und Tönen abhebt, die sie umgeben. Mit weichen Bewegungen begleitet sie ihren träumerischen Sang, den am Schluß der Verse ein merkwürdiges Aufflackern der Stimme die Aehnlichkeit mit den Tönen eines erlöschenden Dudelsacks verleiht. Ihr Erfolg datiert seit langen Jahren, und ihre Lieder, durch die die Liebe und die Sehnsucht weht, schweben auf den Lippen der jungen Mädchen aus dem Volk. Sie bieten ihnen in g-Dur die Hoffnung auf ein Glück, das ihnen, leider, nur das Lied ohne Enttäuschungen gewährt. Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß dem Repertoire von Anna Thibaud, die der Kunst des Chansons keine neuen Wege wies, noch eine lange Lebensdauer beschieden sein dürfte. Die Jugend aller Zeiten wird es niemals müde werden, Wälder, Sonne und Vögel zu besingen, die verschwiegenen Zeugen ihrer Liebe, ihrer Küsse und ihrer Illusionen . .

Die merkwürdige Gestalt Polaires, deren Seltsamkeit verdiente, von dem Pinsel eines ernsten Meisters oder der Feder eines Karikaturisten verewigt zu werden, die Frau, deren Taille ein Halsband zum Gürtel dienen könnte, fesselt die Aufmerksamkeit. Sie verkörpert den Triumph der eleganten Magerkeit und läßt, im Profil gesehen, die Erinnerung an altägyptische Zeichnungen aufleben. Zwei große, seltsam schillernde Augen, deren Brauen fast die Hälfte der Schläfen erreichen, leuchten aus einem Antlitz von rätselhaftem Ausdruck, dessen Mund ein großer, breiter Mund mit kleinen, weißen Zähnen – eine feurige Note in dieses eigenartige Ensemble bringt. Krauses, wirres, schwarzes Haar bedeckt die Stirn. In kurzen, bis an die Knie reichenden Röcken, mit einem Fragment von Taille bekleidet, in ihrem ganzen Wesen von einer keuschen Indezenz, so sang sie noch im Vorjahr in den Music-Halls ihre Liedchen, deren Erfolg sie den epileptischen Verrenkungen ihrer Arme und Beine verdankte. Vor einiger Zeit hat das Theater ihrer perversen Grazie bedurft, um Willys „Claudine“ zu verkörpern, für die sie, wie übrigens für alle Claudinen von Paris, eine eigenartige Veranlagung besitzt.

Die Polaire
Die Polaire
Jeanne Bloch
Jeanne Bloch

Jeanne Bloch, in ihrem Aeußern einer Apfelsine vergleichbar, die man auf einen Kürbis gesetzt haben würde, ist ein Wesen von unbeschreiblicher Beweglichkeit trotz der ungeheuren Fettmasse, aus der sie zu bestehen scheint. Sie erfreut sich im Publikum einer zahllosen Anhängerschaft, die sie schon durch ihr Erscheinen in heiterste Stimmung zu versetzen versteht, die sich zu frenetischem Beifall steigert, wenn sie mit einem Augenrollen, diesen großen Augen in dem kleinen Kopf, sich vergnügt auf den Leib schlägt. Man hat zwar eigene Chansons für sie gedichtet, in denen der Anstand keine besonders hervorragende Rolle spielt, doch betätigt sich ihre vis comica am vorteilhaftesten in den Revuen, zu deren Erfolgen sie ihr redliches Teil beiträgt. Jeanne Bloch ist eine Divette von so anormalen Dimensionen, daß sie wie eine Parodie erscheint, die Parodie der Frau! Doch versieht sie es so verständig, ihr körperliche Mißgeschick in den Dienst ihres Talents zu stellen, daß es vielleicht diese geistvolle Resignation ist, die der wundersamen Venus eine treue Gefolgschaft aus den Reihen des launenhaften Theaterpublikums sichert.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 46/1903.